Josef Sautmann – ein Segler, Wanderer und Kulturträger

Es gibt nicht viele Kevelaerer, die anderen so oft in die Haare geraten sind, wie dieser Mann. Am Dienstag, 11. Dezember, ist Josef Sautmann 80 Jahre alt geworden. Kamm und Schere sind dem Frisörmeister über Jahrzehnte zu Körperteilen geworden, die seine Hände verlängern. Das hat viel mit seinen Augen zu tun. Aber das lüften wir später …

Josef Sautmann kommt 1938 in Recklinghausen zur Welt, die gerade auf den größten Krieg aller Zeiten zusteuert. Josef ist vier, als der Vater – inzwischen mitten im Krieg – seine fünf Kinder aus der Schusslinie bringt. Er gibt Josef, weg von den geliebten Eltern, bei Tante Anna Niehoff ab. „Zweieinhalb Jahre lang hatte ich nur Heimweh“, erinnert sich Josef Sautmann, „ein Trauma“.

Als er heim darf und eingeschult wird, setzt es für kleinste Vergehen in der Klasse Prügel. Die Kinder kämpfen sich durch die Zeit. Nach dem Abschluss 1953 tritt Josef in Emsdetten eine Lehrstelle an. Er soll Textilkaufmann werden und wohnt im Haushalt von Onkel Anton Sautmann. Von Cousine Elisabeth lernt er alles, was zum Leben nötig ist. Bei Tisch entdeckt er den Unterschied zwischen essen und speisen. Dort versammelt sich die Familie und spricht offen und vertrauensvoll über alles, was anliegt. In der Lehre begreift Josef buchstäblich: Er fasst in Stoffe und erfühlt und bestimmt ihre Eigenschaften. Doch er möchte mehr. Er will selbstbestimmt und kreativ arbeiten.

Seiner Zeit voraus

Anfang der 1960er-Jahre wechselt er auf die Möbelfachschule in Köln. Sie gilt als Talentschmiede der Küchen- und Einrichtungsbranche. Josef hat seine eigenen Ideen, wie Küchen zu gestalten sind. Er entwirft sie, seiner Zeit voraus, als Mittelpunkt der Wohnungen: Hier trifft sich die Familie; hier speist sie und tauscht sich aus. Auch die heute beliebten Kochinseln plant er schon – und setzt einen Entwurf Jahre später in der eigenen Küche an der Gelderner Straße um.

Damit erreicht Sautmanns Lebensgeschichte Kevelaerer Boden. Denn zwischenzeitlich hat der Twen eine junge Frau kennen gelernt, die aus Kevelaer stammt: Ursula Hogenkamp. Die beiden verlieben sich. In Kevelaer führt Ursulas Mutter Maria den Frisörsalon weiter, den sie 1937 mit Vater Bernd eröffnet hat und nach seinem Tod 1959 auf eigene Faust managt. Bald steht für den jungen Mann fest: „Frisör – das ist was für mich.“

Er verzichtet darauf, in Köln „den Betriebswirt zu machen“. Er möchte den Menschen bei der Arbeit ins Gesicht sehen, absolviert die Frisör-Ausbildung und hängt später seinen „Meister“ an.

Er will Frisuren nicht aufsetzen wie einen Hut; sie sollen angezogen sein wie die eigene Haut. Josef ist für Schnitte nur der Mode wegen nicht zu haben. Er will keine Typen „machen“, weil sie gerade einen Trend oder ein Styling markieren. Er möchte den eigentlichen Typ zur Geltung kommen lassen. „Es gab Leute, die wollten eine Maske“, sagt er, „bei denen konnte ich nicht schneiden.“

Frisuren als Körpersprache

Da sind wir wieder bei Sautmanns Augen, die wie Kamm und Schere zu seinem Handwerkszeug gehören und jetzt nicht mehr die Eigenschaft textiler Stoffe, sondern an der Gelderner Straße 25 intuitiv Haarstrukturen, Haut, Gesichter und mitunter Persönlichkeiten erfassen. Er spricht gern mit seinen Kunden. Viele öffnen sich. Er sieht, wie sie sich über die Jahre verändern. So ändern sich auch ihre Frisuren. Für ihn sind sie eine eigene Körpersprache. Da er sie seinen Kunden auf den Schopf schneidert, geht er besonders respektvoll ans Werk.

Über Jahrzehnte nimmt er an Fortbildungsgesprächen teil. Frisörmeister aus halb Europa treffen sich privat, weiten Horizont und Wissen und geben gute und schlechte Erfahrungen weiter. Sautmann lernt staunend und neugierig unbekannte Facetten von Farben, Linien und Gesichtsformen kennen. Eines seiner ersten Aha-Erlebnisse: „Deine Iris trägt alle Farben in sich, die du liebst.“

Der Meister geht auch in anderen Bereichen neue Wege. Zwischenzeitlich beteiligt der Salon Angestellte am Gewinn. Sautmann will den Erfolg nicht für sich allein. Bis Mitte der 80er-Jahre – der Betrieb beschäftigt 18 Mitarbeiter – läuft alles gut. Dann steigen die Betriebsnebenkosten eklatant.

Politisches Engagement

Sautmann wird politisch. In ungezählten Leserbriefen und Petitionen setzt er sich dafür ein, die Höhe dieser Kosten nicht mehr an den Lohn, sondern an den Gewinn der Unternehmen zu koppeln. Gerade die lohnintensiven Handwerksbetriebe im Mittelstand, die mit Abstand die meisten Menschen beschäftigten, hätten sonst das Nachsehen. Großunternehmen, die Arbeitsplätze durch Maschinen ersetzten, kämen hingegen bestens weg.

Zwischenzeitlich muss er sich vorm Finanzamt rechtfertigen – am Ende mit Erfolg. Beamte halten ihm sinkende Einnahmen vor und sprechen das Wort „Schwarzgeldeinnahmen“ aus. Sautmann kontert. Erst bürde der Staat lohnintensiven Unternehmungen immer mehr Lasten auf und treibe sie in eine verzweifelte Lage, dann setze er über die Finanzämter Daumenschrauben an. „Das ist zynisch!“

Mit 65 Jahren – Josef Sautmann hat sich privat und wirtschaftlich in gutem Einvernehmen von seiner Frau getrennt – übergibt er den Salon an Nachfolgerin Marion Busch.

Bis heute kämpft er für eine gerechtere Verteilung der Betriebsnebenkosten. Kevin Kühnert, der Bundesvorsitzende der Jusos, hat unlängst interessiert auf einen Brief von Sautmann reagiert. Der Kevelaerer hat Talkshow-Moderatorinnen, Bischöfe, Bundeparteivorsitzende und viele andere mit dem Thema konfrontiert. „Das will ich noch zu Ende bringen“, sagt er und sieht hoffnungsvoll aus.

Noch immer sechs große Leidenschaften

Sechs weitere Leidenschaften des KMGV-Sängers und Bienenzüchters mit 15 Arbeitsvölkern samt 750.000 summenden Flugkörpern im eigenen Garten sollen noch erwähnt werden.

Da ist seine Familie, zu der Sohn Dirk und die Enkel Leah und Philipp gehören. Sie bescheren dem Großvater entzückende Zeiten. Da ist Lebensgefährtin Gisela Haselhorst. Sie ist das charmante und liebenswürdige Glück an seiner Seite. Sie schätzt seine Gelassenheit und seine Kraft zu beobachten.

Da ist seine Segelleidenschaft, die ihn über drei Jahrzehnte mit guten Freunden von Schweden bis an den Bosporus zu Traumbuchten führt und ungezählte Bekanntschaften schließen lässt. Die Crew spricht in Häfen Einheimische an, freut sich an privaten Einladungen und unverfälschtem Flair. Für Skipper Sautmann ist „immer die Crew der Schlüssel zu intensivsten Erfahrungen.“

Da ist die Wanderleidenschaft, die Josef Sautmann und seinen Freund Bernd Hoffmann in Deutschland über Jahre auf sämtliche Berge führt, die höher als 1000 Meter sind. Einmal wandern sie von Pforzheim nach Basel. Und Josef Sautmann fragt sich: „Was treibt uns?“ Seine Antwort: „Auf keine andere Weise lassen sich alle modernen Errungenschaften besser ignorieren.“

Aus dem Wandern wird – in anderer Besetzung –das Fußpilgern. Es führt ihn und Kamerad Hans-Gerd Op de Hipt von europäischen Orten zurück zur Gnadenkapelle in Kevelaer, zurück zur Mutter. Fern des Alltags genießen die Männer „die Stille im Kopf, die einen dazu bringt, das eigene Innere zu hören und frei zu denken“.

Und die sechste Leidenschaft? Josef Sautmann streicht schon in jungen Jahren durch Galerien. Kunst fasziniert ihn. In seinem Salon stellt er Gemälde und Zeichnungen des Kinderarztes Dr. Ferdinand Helpenstein aus und engagiert sich für die Frühförderung von Kindern. Denn der Verkaufserlös geht an die Aktion St. Nicolaus. Sautmann widmet sich mit einem überaus aufwendig erstellten Werksverzeichnis an der Seite von Pro Arte dem Nachlass von Helpenstein und dem Nachlass von Karl Neuy.

So wird Josef Sautmann – in der Tradition des Frisörs und Kunstliebhabers Bert van der Post – auf eher leisen Sohlen, menschenfreundlich und mutig zu einem Kulturträger der Stadt.