Treiben und treiben lassen

Es könnte alles so einfach sein: Ein mehr als bescheidenes Tor zur Welt steht offen für Benjamin, nachdem er einen exzellenten College-Abschluss und sogar schon ein Stipendium in der Tasche hat. Doch die eigentliche „Reifeprüfung“ wartet noch auf den Musterschüler, der in Sachen Liebe und Sex noch ziemlich unerfahren ist. Die reifere – und ungleich abgeklärtere – Mrs. Robinson reizt den jungen Mann. Einen Sommer lang treiben es die beiden und lassen sich beide treiben. Doch dann wird‘s kompliziert: Benjamin verliebt sich in Elaine, die Tochter von Mrs. Robinson.

Für das Dinslakener Landestheater Burghofbühne hat Matthias Fontheim (Inszenierung und Bühne) „Die Reifeprüfung“ in die beengte Szene eines grauen Kastens gesetzt. Der ist Swimmingpool und Hotelzimmer und Disco und noch ganz andere Räume und doch so beschränkt, dass er kaum einen Ausbruch zulässt. Da kann das Saallicht noch so häufig angehen, da können die Charaktere noch so oft einen atemlosen Ausflug durch den Zuschauerraum oder auf die Hinterbühne unternehmen – sie landen immer wieder in den bescheidenen vier Wänden ihrer Selbstbeschränkung.

Alles wirkt vorbestimmt, wie die Karriere- und sogar die Familienlinie, die Benjamins Eltern für ihren Sprössling bereits vorgezeichnet haben. Lässt der Vater (Arno Kempf) am Anfang noch jovial die Zügel locker („er soll sich die Hörner abstoßen und das Leben genießen“), presst er schon bald gemeinsam mit einer ängstlich-zurückhaltenden Mutter (Christiane Wilke) den Sohnemann in seine Schablone – sonstdrehe er ihm den Galdhahn ab, droht er.
Sind die Eltern noch gradlinig und vorhersehbar angelegt, wird‘s bei deren Freunden schon diverser und diffiziler. Mr. Robinson (Andreas Petri) weiß um die gescheiterte Beziehung zu seiner Frau, findet aber nicht die Kraft, die Ehe zu beenden. Warum, das erfährt man nicht, dazu lässt sein Verhalten zu viele Deutungen zu. Mrs. Robinson ist die Abgeklärtheit in Person. Außer ihrer Tochter scheint ihr es an nichts gelegen – nicht einmal an sich selbst. Friederike Bellstedt zeigt eine Frau, die sich treiben lässt durch eine Art lakonischer Langeweile, die ihresgleichen nicht mal mehr zu suchen scheint. Je gleichgültiger ihre Beziehung zu dem jüngeren Mann wird, umso größer wird ihr Drang, die Tochter vor ihrem Liebhaber und einem Leben wie dem ihren zu schützen. Patric Welzbacher gelingt der Spagat zwischen linkisch-unerfahrenem Jüngling und rau-rumpelndem Rebell so glänzend, dass er das Publikum zum Lachen bringt und zu Mitleidsbekundungen hinreißt. Und Julia Sylvester ist als Elaine schlichtweg eine Offenbarung zwischen köstlicher Koketterie und verdammt echter Verzweiflung und läuft der sehr guten Mrs. Robinson damit vielleicht sogar ein wenig den Rang ab.

Dass die Bühnenfassung (Terry Johnson) des Romans von Charles Webb in der Fontheim-Inszenierung ohne die üppigen Filmkulissen auskommt, macht die Konzentration auf das Innerste der Figuren umso intensiver – und das hervorragende Ensemble, das während der Aufführung auf offener Bühne an den Rändern sitzt, lässt Liebe zum Stoff und zum Schauspiel auf eine Weise durchblicken, dass anderthalb Stunden vergehen wie ein Jahrhundertsommer, von dem man doch keine Minute missen möchte. Vielleicht ist man danach kein anderer Mensch. Aber es war schön. Langanhaltender Applaus.