Hat die Kirche beim Thema Missbrauch dazugelernt?

Das Petrus-Canisius-Haus erschien angesichts des Andrangs fast schon zu klein für die Ausrichtung dieses Abends, in dem eineinhalb Stunden lang offen über den sexuellen Missbrauch in den 1980er-Jahren durch einen Kaplan an St. Marien und den Umgang damit diskutiert wurde. Dabei schälten sich eine Reihe grundlegender Fragen über die Struktur und das Verhalten der Kirche und ihrer Glieder heraus.

Der amtierende Kevelaerer Wallfahrtsrektor Gregor Kauling, der mit dem Verlesen des Briefes der betroffenen Frau am Sonntag während der Eucharistiefeiern den Stein ins Rollen gebracht hatte (das KB berichtete), dankte allen Anwesenden zunächst für „das Interesse, miteinander im Gespräch zu sein, angesichts der schweren Thematik.“ Er machte deutlich: „Mir war klar nach der schweren Aufgabe der Veröffentlichung, dass dieser Abend nicht nur notwendig, sondern wichtig ist.“ In diesem Zusammenhang fiel von Kauling das Wort „Transparenz“.

André Fritz, Chefredakteur von Radio Kreis Wesel, übernahm die Moderation des Abends. Er stellte klar, dass im Zuge der Diskussion keine Opfernamen genannt würden, verwies auf die beiden Opferberater, die bei Bedarf zur Verfügung stünden, bevor er kurz noch einmal die Zusammenhänge des Falls darstellte, was wichtig für die spätere Debatte war.

Schockstarre in der Gemeinde

Wallfahrtsrektor Gregor Kauling beschrieb die ihm entgegengebrachte Stimmung nach der Veröffentlichung des Briefes so: „Ich habe eine Stille erlebt, in diese Stille hinein eine große Betroffenheit der Menschen, was unter uns – auch nach vielen Jahren – passiert ist.“ Er sprach sogar von „einer Art Schockstarre“. Viele Reaktionen im Nachgang hätten sich mit der Frage beschäftigt, wie so etwas passieren konnte in Bezug auf den langen Zeitraum des Falles, warum keiner gemerkt habe, „dass augenscheinlich Versäumnisse des Bistums zu sehen sind.“ Er wolle auch „nicht verschweigen, dass es auch Rückmeldungen gab, die nicht verstehen, warum ich in dieser Weise die Veröffentlichung getätigt habe.“

Kauling gestand während der Diskussion, dass es nicht leicht gewesen sei, mit dem Wissen um den Fall durch dieses Jahr zu gehen. Auf einen Umstand wies er dabei hin: „Es hat während des Pilgergottesdienstes eine konkrete Fürbitte für Opfer sexuellen Missbrauchs in der Kirche gegeben – und wie oft ich spätestens im Sommer von Gemeindemitgliedern angesprochen worden bin, dass es doch mal endlich gut sei, diese Fürbitte herauszunehmen, das hat mich auch erschüttert.“

Es gibt einen zweiten Fall

In den Gesprächen des Sommers sei er froh gewesen, als es hieß, das werde in eine Veröffentlichung hinein gehen. „Aber ich hoffe, dass sich unabhängig von dem Fall betroffene Jungen, Mädchen, Männer und Frauen melden.“

Der Interventionsbeauftragte des Bistums Münster, Peter Frings, machte deutlich: „Der Bischof hat ja bis auf Weiteres jede Form des Gottesdienstes für den Priester untersagt.“ Jetzt müsse man weitersehen. „Es wird in jedem Fall eine Entscheidung gefällt werden, wie es weitergeht. Ich gehe davon aus, dass der Priester nicht mehr weiter priesterlich tätig sein wird, aber das muss formal kirchenrechtlich noch deutlich festgelegt werden.“

Auf die Frage des Moderators, ob es weitere Fälle gebe, antwortete Frings. „Wir haben gestern Abend die Mitteilung bekommen, dass sich eine zweite Person gemeldet hat bei einer der Ansprechpartnerinnen, die gesagt hat, sie sei in diesem Rahmen sexuell missbraucht worden. Sie habe aber klar gesagt, dass sie wolle, dass keine weitere Details bekannt gegeben werden.“ Ob es noch weitere Meldungen geben werde, wisse er nicht.

Recht mit zweierlei Maß

Die Debattenbeiträge aus dem Publikum ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Der Mitarbeiter eines katholischen Kindergartens wäre längst schon entlassen worden, wenn er überführt worden wäre, für Priester gelte ein anderes Recht, meinte ein Mann gleich zum Auftakt. Dass er keine Messe mehr lesen dürfe, sei keine Strafe. Dass die Frau weiter habe erleben müssen, dass er Messen lese, sei eine Schande. „Kaum einer hat Verständnis dafür, dass es für solche Täter unterschiedliche Bestrafungen gibt“, meinte Irmgard Ripkens. Man müsse darüber nachdenken, „unsere Kinder zu stärken, viel eher sich zu äußern, wenn was Komisches passiert.“

Bernadette Baldeau als neue Präventionsfachkraft der Pfarrei St. Marien unterstrich in der Diskussion, dass genau das das Ziel des zukünftigen Schutzkonzeptes sei. Präventionsschulungen solle es in allen kirchlichen Einrichtungen des Bistums geben, ergänzte Peter Frings. Es gehe um einem Bewusstseinswandel, sagte Pastor Kauling.

Als ehrenamtliche Mitarbeiterin der Caritas, die an solchen Schulungen bereits teilgenommen hat, kritisierte Ingrid Jörgens die Schulungen. „Die sind nicht gut genug.“ Man müsse die Kinder lehren, sich auch gegen Autoritäten aufzulehnen.

Theo Verhülsdonk, damals in St. Marien Messdiener, sagte: „Ich finde es ein Skandal, wie damit umgegangen wird. Wir haben 2019 und die Kirche sagt, wir haben eine eigene Gerichtsbarkeit. Im Zivilrecht wäre mit dem Mann ganz anders umgegangen worden. So kann es nicht weitergehen.“ Er wolle nicht wissen, „wie viele Pfarrer hin- und hergeschickt werden, von denen das Bistum weiß. Ich gehe davon aus, dass der Fall bekannt war. Das halte ich für einen Witz!“

Ralf Blumenkemper sprach von „Wischi-Waschi, was da vorne erzählt wird.“ Er kritisierte, „ dass man sich hinter der Betroffenen zurückzieht, die sagt, sie hat die Öffentlichkeit nicht gewollt.“ Er fragte sich, warum die Kirche „nicht den Mumm“ habe, „diese Leute aus dem Verkehr zu ziehen? Laut der Pressemitteilung habe sich der Betroffene darauf eingelassen, „dass es so ist. Spätestens dann muss die Kirche handeln.“

Fritz Pesch stellte die Frage, inwieweit jetzt das Bistum den Vortrag der Frau dahin trägt, wo der Geistliche zur Zeit ist. „Sie wirken für mich ein Stück hilflos, sagen, wir wollen alles ändern. In den letzten Jahren ist aber schon so viel passiert, und es ändert sich nichts. Und das ist traurig.“

Wilfried Renard, der als Lehrer damals mit dem Geistlichen zu tun hatte, beschrieb, wie der Mann in der Bibliothek die Mädchen um sich versammelt und auch mal „ausgekitzelt“ habe. Er machte eine wichtige Feststellung zu dem Thema: „Das Generalvertrauen gegenüber dem Priester wandelt sich in Misstrauen.“

„Bin ich in der Kirche noch Zuhause?“

Warum die Kirchen nicht wenigstens jetzt den Opfern helfen, fragte Karin Koppers, die den Geistlichen acht Jahre lang als Kolping-Präses kannte. Und Birgit Pauly fragte: „Es gab acht Stellen nach Kevelaer für den Priester bis 2010. Ist bei den Folgepfarreien nicht nachgefragt worden, ob da was ist?“ Die Menschen verstünden nicht, warum man so einen Mann auf ein Kissen fallen lasse. Und die Tatsache, dass der Mann sich selbst nicht anzeige, bringe sie persönlich an ihre Grenzen, wo sie sich frage: „Bin ich in der Kirche noch zu Hause?“

Peter Frings hatte bei so geballter Wut einen schweren Stand. Das Ganze sei nicht an den Staatsanwalt gegangen, „weil die Frau das nicht wollte“. Die Auflagen, wo Absprachen getroffen wurden, seien „falsch und unklar“ gewesen. Es müsse präzisiert werden, was geht und was geht nicht – „zum Beispiel, was ist ein öffentlicher Gottesdienst.“

Wenn das klar gewesen wäre, „wäre es möglicherweise nicht an die Öffentlichkeit gegangen“, sagte Frings. „Aber es ist das Recht der Frau zu sagen, ich habe den Fall vorzubringen. Sie hat das entschieden.“ Er stellte die Frage: „Wie wollen Sie als Bistum eine Regelung mit einem Kleriker treffen, wenn ich den in eine andere Gemeinde versetze, wenn ich das nicht öffentlich machen darf?“ Denn dann werde es öffentlich.

Man versuche jetzt, „aus den Fehlern zu lernen“ und zu handeln, ohne über die Betroffenen hinwegzugehen und diese selbst bitten, sich an die Staatsanwaltschaft zu wenden. Gleichzeitig meinte er, man sei „an einem Punkt“, wo man in solchen klaren Fällen den Priester „aus dem Verkehr ziehen“ dürfe.

Widersprüchliche Aussagen

„Heute wäre es nicht mehr möglich, dass so ein Kleriker im Dienst bleibt. Er muss nur verurteilt sein. Wenn nicht, sieht das Kirchenrecht vor, dass der Fall nach Rom gemeldet und eine Auflage erteilt wird. Sie können aus dem Kirchenrecht heraus nicht entlassen werden.“ Ein paar Minuten später räumte Frings aber offen ein, dass es sicher „nach wie vor Kleriker gibt“, die Taten begangen haben, „eingesetzt sind, das ist unstreitig so.“ Und er erklärte: „Wir haben in der Kirche kein Strafrecht, das soll ja auch geschaffen werden. Wir können als Kirche ein eigenes Strafsystem aufbauen, das ist überfällig.“

Die strafrechtliche Frage der Verjährung werde man „nicht beantworten, weil das Recht so kompliziert ist“, gab er den Ball an die Staatsanwaltschaft weiter. „Wenn die sagen, es ist verjährt, dann ist es verjährt.“ Seit einigen Wochen gebe es Historiker, die den Zugang zum gesamten Bistumsarchiv bekommen, um sich alle Akten von allen Klerikern anschauen zu können.

Man helfe Betroffenen, indem über „Zartbitter“ Münster Hilfsanträge nicht mehr allein ausgefüllt werden müssen. Über einen Notar könne jetzt für Betroffene auch Akteneinsicht gewährt werden. „Ich kann nicht in Monaten aufarbeiten, was in der Kirche in Jahrzehnten schief gegangen ist“, machte er klar.

Dass Priester aus dem Dienst genommen würden, wenn sie verurteilt werden – dem widersprach Martin Schmitz, selbst Betroffener von sexuellem Missbrauch durch einen Priester und Mitbegründer der Selbsthilfegruppe Rhede. „Mein Täter ist mehrfach versetzt worden trotz einer Bewährungsstrafe. Es stimmt nicht. Es wird immer noch gesehen, wie man den Priester und Täter möglichst ruhig hält und dass es nicht an die Öffentlichkeit kommt.“ Die Reaktion des Bistums erfolge immer erst dann, wenn die Betroffenen an die Öffentlichkeit gingen. Das sei ein „Schlag ins Gesicht“ der Betroffenen und unverantwortlich gegenüber der Gemeinde. „Wer will denn die Messe von Verbrechern gelesen bekommen?“

Für den emotionalsten Moment des Abends sorgte eine Frau, als es um die juristisch korrekte Benennung des Missbrauchers seitens der Kirche als „Beschuldigter“ oder „Täter“ ging. „Ich habe einen Brief, einen Brief von dem Priester, dass er es zugibt“, rief sie aus, stand auf und verließ den Raum.