Ein Telefon schellt. Eine Schützin der deutschen Nationalmannschaft nimmt den Hörer ab und sagt „Hallo“. Kurze Pause. Dann reicht sie den Hörer an Anna Janssen mit den Worten weiter: „Paris is calling“. Im Bild erscheint Anna Janssen, eingehüllt in die französische Trikolore mit einem aufgeklebten schwarzen Oberlippenbart. Was dann folgt, ist ein Lachanfall aller Beteiligter.

Das Video, das auf Social Media viral geht, symbolisiert bezeichnend was und wie Anna Janssen von der Schieß Sport Gemeinschaft (SSG) Kevelaer bei der Europameisterschaft im ungarischen Györ Historisches erreicht hat.

Ausgestattet mit Siegen bei den diesjährigen Welt Cups in Kairo/Ägypten und Granada/Spanien, reiste die Weltranglisten-Erste Luftgewehr als eine Topfavoritin auf den EM-Titel nach Ungarn. Aber trotz der großen Erwartungshaltung versprüht Janssen auch immer eine natürliche, sympathische Lockerheit, die man in einer Sportart wie Sportschießen auch braucht. Denn dieser Sport lebt wie kaum ein anderer von der mentalen Stärke der Sportler. Einsatz, Disziplin und Siegeswille, aber auch Spaß und Bodenständigkeit sind bei Anna Janssen eben zwei Seiten einer Medaille.

Das zahlte sich für die 22-jährige Studentin für Gartenbau bei der EM aus. Denn sie errang nicht nur alle drei möglichen Goldmedaillen, sondern auch den ersehnten Quotenplatz für Deutschland bei den olympischen Spielen in Paris im Juli in der Disziplin Luftgewehr Damen. Damit rückt der Traum von einer Olympiateilnahme für Janssen ganz nahe, auch wenn er formal noch nicht besiegelt ist.

Den Auftakt bei der EM machte der Mixed Wettbewerb. Das Luftgewehr-Duo Anna Janssen und Maximilian Ulbrich setzte gleich zu Beginn der EM mit der Goldmedaille ein Zeichen, auf welchem Niveau über die Titelvergabe entschieden wird. Janssen erzielte dabei die Bestleistung in der Qualifikation. Bei den 30 Schuss erzielte sie mit Durchgängen von 106,2/106,1/106,1 das beste Vorkampfergebnis. Das ist im Schnitt mehr als eine 10,6. Wenn man die Zehn mit einem Durchmesser von „0,5 mm“ mittig trifft, erzielt man eine 10,9. Das verdeutlicht, über welches Leistungsvermögen Anna Janssen verfügt.

„Ich bin ein großer Fan davon, dass die Mixed-Wettkämpfe vor den Einzel-Wettkämpfen stattfinden. Mir persönlich gibt es unendlich viel Sicherheit und Selbstvertrauen“, sagte Janssen bereits im Vorfeld der EM. Ausgestattet mit dem Selbstvertrauen aus dem EM Finalsieg Mixed (16 : 12 Sieg gegen Frankreich), konnte Janssen in der Qualifikation für die Einzelwertung ihr Potential abrufen. Mit 631 Ringen zog sie als Sechste in das Einzelfinale ein. Damit erfüllte sie zwar nicht ganz die an sich selbst gesetzten Erwartungen, aber im Finale starten ohnehin alle wieder bei Null. Und Finale kann Anna Janssen, das hat sie in der Vergangenheit immer wieder unter Beweis gestellt.

Der „Anna-Turbo“

Waren die ersten drei Schüsse noch verhalten, zündete sie ab Schuss vier den „Anna-Turbo“. Nach fünf Schüssen war sie bereits Dritte, nach dem zehnten Schuss Zweite und nach dem 12. Schuss führte sie das Finale an. Kurz danach lichtete sich das Teilnehmerfeld und es stand fest, dass sie einen von zwei zu vergebenden Quotenplätze für Olympia sicher hatte.

Der Quotenplatz und die Führung schienen Janssen noch zu beflügeln, denn sie baute den Vorsprung weiter aus, erlaubte sich keinerlei Schwäche. In die letzten zwei Schuss des EM-Finales ging sie mit 1,4 Ringen Vorsprung in das Duell mit der Polin Piotrowska und das reichte der Kevelaererin natürlich. Mit einer 10,8 im letzten Schuss, 1,8 Ringen Vorsprung und der geballten Faust in Richtung Publikum machte Janssen den Triumph perfekt und sagte danach: „Während des Finales habe ich schon realisiert, dass ich den Quotenplatz gewonnen habe, danach war ich auch etwas entspannter und habe mir gesagt: Jetzt versuche ich auch noch Europameisterin zu werden. Im Finale habe ich mir Selbstbewusstsein zugesprochen und wusste, dass ich es kann. Mein Puls war definitiv nicht niedrig, aber irgendwie habe ich alle in die Mitte gekriegt. Das Handy ist danach explodiert, ich bin super dankbar für alle, die mich unterstützt haben“.

Den Abschluss der Luftdruckwaffen-EM stellte der Teamwettbewerb da. Und da war niemand verwundert, dass Anna Janssen mit den Teamkolleginnen Anita Mangold und Larissa Wegner schon wieder im Goldfinale stand. Hier sah es aber zunächst nicht nach dem dritten Gold für Janssen aus. Denn beim Stand von 15 : 9 musste das deutsche Trio zunächst drei Matchschüsse abwehren. Doch das gelang dem Team in souveräner Art und Weise mit hohen Wertungen, während das polnische Team deutlich Nerven zeigte. Mit dem ersten Matchschuss der Deutschen war das dritte Gold mit 17 : 15 Punkten für Janssen perfekt. Damit krönte sie sich zur unangefochtenen Königin der EM.

Jetzt liegt der Fokus auf die verbandsinterne Qualifikation zur Teilnahme an den olympischen Spielen in Paris ab dem 26. Juli. Hierfür werden die Ergebnisse aus den Welt Cups in Kairo, Baku, München und der EM gewichtet herangezogen. Doch das dürfte nur noch eine Formsache sein, zumal sich Anna Janssen in der Form ihres Lebens befindet.

Mit zehn Jahren hat Janssen beim 2021 verstorbenen Landes- und Vereinstrainer Rudi Joosten den Schießsport erlernt, wurde jahrelang von ihm gefördert und an die internationale Spitze herangeführt.

Jetzt rückt die erste Olympiateilnahme von Anna Janssen immer näher, was auch für den Kreis Kleve und die Stadt Kevelaer eine Premiere darstellt. Daher werden auch viele Menschen in der Region Olympia interessiert verfolgen und Anna Janssen fest die Daumen drücken.