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Dr. Barbara Hendricks (r.) im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern. Foto: LS
Schülerinnen und Schüler des KvGGs erfuhren mehr über Atomkraft in Deutschland

Im Gespräch mit Dr. Barbara Hendricks

Bereits im vergangenen Jahr hatte der Geschichte-Politik Kurse der 10. Klassen am Kardinal-van-Galen Gymnasium besonderen Besuch. Die ehemalige Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Barbara Hendricks, war ans KvGG gekommen, um sich den Fragen der Schülerinnen und Schülern zu stellen.

Wenn etwas daneben geht, haben wir ein Problem

Ist das Thema Kernkraft im Allgemeinen spätestens seit dem Ausstiegsbeschluss der Bundesregierung im Nachgang der Katastrophe von Fukushima 2011 medial kein wirklich großer Aufreger mehr, stellt sich die Wahrnehmung für Bewohner der Grenzregion zu Belgien vollkommen anders dar.
So hatten SPD und Bündnis 90/Die Grünen am Abend des 30. Mai zu einer über ihre Kreisebenen gemeinsam organisierten Veranstaltung ins Konzert- und Bühnenhaus eingeladen, die den programmatischen Titel: „Tihange – abwarten oder abschalten?“ trug. Unter Moderation des Kevelaerer Bürgermeisters Dr. Dominik Pichler (SPD) referierten und diskutierten die ehemalige Bundesumweltministerin Dr. Barbara Hendricks (SPD) und Oliver Krischer (B90/Grüne), seines Zeichens nicht nur stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion seiner Partei, sondern auch Mitglied thematisch einschlägiger Ausschüsse und Arbeitskreise. Das Podium war also mit zwei bestens in der Materie stehenden Diskutanten besetzt, die nach Begrüßung und Anmoderation Pichlers zunächst aus ihrer jeweiligen Perspektive Fakten und Einschätzungen zum Thema des Abends vortrugen.
Die Faktenbasis
Dr. Barbara Hendricks eröffnete und verschaffte mit ihrem detailreichen und von emotionalem Dekor weitgehend freien Vortrag die nötige Faktenbasis für eine anschließende Diskussion. Grundproblem und Auslöser der Ängste um den Druckwasserreaktor Tihange-2 (und den baugleichen Reaktor Doel-3) sind Haarrisse in dem aus Stahl bestehenden Behälter, welcher den radioaktiven Reaktorkern beherbergt. Zwei Dinge sind es, die dabei besonders beunruhigen: Zum einen gesteht man selbst seitens der belgischen Regierung ein, dass auf dem heutigen Kenntnisstand der Reaktor so als Neubau keine Betriebsgenehmigung mehr bekäme, entzieht diese derzeit allerdings auch nicht.
Zum anderen führte Hendricks aus ihrer Erfahrung als ehemalige Bundesumweltministerin aus, wie schwierig sich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der belgischen Seite gestaltet, die sich bis in jüngste Zeit selbst einem Forschungsprojekt zu Ursache und Gefahren der benannten Haarrisse verweigerte. Zwar verfügt auch Belgien ähnlich wie Deutschland über einen formalen Ausstiegsbeschluss bis 2025 aus der Kernenergie, dessen Umsetzung erscheint im Anbetracht der mangelnden Vorbereitung darauf allerdings als fraglich.
Hatte Hendricks mit ihren Ausführungen bereits ein breites inhaltliches Spektrum abgedeckt, versuchte Krischer nun die Perspektive noch etwas zu weiten und eigene Akzente zu setzen. Besonders stellte er dabei heraus, dass er eine Lösung des Problems im Speziellen wie auch der Energiepolitik im Allgemeinen nur auf europäischer Ebene sieht. Um es am Problem Tihange deutlich zu machen: Auch wenn das Kraftwerk im grenznahen Raum steht, gibt es von deutscher Seite aus keine Möglichkeit, spürbaren Einfluss auf die belgische Regierung auszuüben. Zwar hat sich in Belgien das Stimmungsbild mit der Zeit deutlich gegen die Kernkraft verschoben, so ist es für Krischer dennoch wichtig, für einen Atomausstieg auf europäischer Ebene zu werben – gerade mit Blick auf den EU-Partner Frankreich (Kernenergiequote 75%) ein ambitioniertes Vorhaben.
Ein weiterer Punkt, der nicht nur Krischer beschäftigt, sondern auch Hendricks und zahlreiche anwesende Bürger, ist die Lieferung von Brennelementen aus Deutschland (Aufbereitungsanlagen in Gronau und Lingen) in andere, die Kernenergie weiter nutzende Staaten. In der Wahrnehmung, dass dieses problematisch und mit Blick auf die hiesige Energie- und Umweltpolitik nicht wünschenswert ist, bestand durchaus Konsens, in der Art des Umgangs damit logischerweise nicht. Strebt Krischer in dirigistischer Manier eine Stilllegung (gegebenenfalls mit Hilfe einer Klage) der Anlagen an, spielt für Hendricks die in einem Rechtsstaat selbstverständliche Wahrung der Eigentumsrechte des Betreibers bei ihren Überlegungen eine Rolle, ebenso wie die damit einhergehenden Entschädigungsansprüche. Kurzum: Eine einfache und schnelle Lösung ist hier nicht in Sicht.
Nicht isoliert
Eines durchzog die ganze Veranstaltung deutlich: Das Thema Kernkraft ist nicht isoliert zu betrachten, wie es vielleicht noch im Nachgang der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 in den späten 80er und 90er Jahren geschah, sondern bettet sich konzeptionell in die Überlegungen zur (nationalen) Energiepolitik ein, die perspektivisch zu einer europäischen Energiepolitik werden sollte. So lautet zumindest der Wunsch im Grunde aller Anwesenden des Abends. Das Ende der Nutzung der Kernenergie und perspektivisch auch der Ausstieg aus der Kohleverstromung werden die Staaten in Europa vor große Herausforderungen stellen, die letzten Endes nur auf europäischer Eben gelöst werden können. Darüber hinaus warben beide Diskutanten im Sinne des Klimaschutzes deutlich für eine stärkere Bepreisung des CO2-Ausstosses nach dem Verursacherprinzip und in diesem Zusammenhang auch für eine Reform der Strombesteuerung, die diesem Grundgedanken Rechnung trägt.
Wie lautet nun die Quintessenz des Abends? Irgendwie war es jedem Besucher im Grunde klar, dass die Eingangsfrage „Tihange – abwarten oder abschalten?“ einzig rhetorische Qualität besitzt und so stellten sich die im Laufe der Veranstaltung herausgearbeiteten Möglichkeiten als dermaßen eng und begrenzt dar, dass es schlussendlich wohl auf eine Form „aktiven Abwartens“ hinausläuft. Alle Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Thema und des friedlichen Protestes sollten unbedingt genutzt werden, aber am Ende ist die belgische Seite am Zug, auf sie Einfluss zu nehmen, was aus deutscher Perspektive kaum möglich ist.
Die rund 80 Besucher des Abends bekamen in jedem Fall eine große Menge an Fakten zum Thema geboten und die Chance, zwei Perspektiven auf die Energiepolitik im gemäßigten Schlagabtausch zu erleben. Auf der einen Seite stand eine durch die Erfahrungen des Regierungsbetriebes abgeklärt und nüchtern analytisch wirkende Barbara Hendricks, die es wohltuend verstand, bei so einem emotional aufgeladenen Thema wie der Verteilung von „Jodtabletten“ an die Bevölkerung im Raum Aachen, mittels Fakten die sprichwörtliche „Spannung aus dem Spiel“ zu nehmen.
Politische Stichelei
Auf der anderen Seite stand ein dynamischer Oliver Krischer mit klar umrissenen Vorstellungen für eine ganzheitliche Energiepolitik auf europäischer Ebene. Diese hätte ihre Wirkung auf die Zuhörer zweifelsohne auch mit etwas weniger reflexhaft wirkender Stichelei gegen andere politische Lager entfacht, wie sie in gleichem Maße ohne die nicht immer zum Thema gehörenden Übertreibungen ausgekommen wäre, die sich einzig in ihrer rhetorischen Wirkung erschöpften.
Bürgermeister Dr. Dominik Pichler führte mal souverän, mal eher leger durch den Abend und holte manches Problem der großen Politik fasslich auf die Kevelaerer Ebene zurück. Die Frage aus der Zuhörerschaft, wie denn auf der kommunalen Ebene die Notfallpläne für einen eventuellen Störfall in Tihange mit austretender Radioaktivität aussehen, brachten ihn dann allerdings doch etwas in Bedrängnis. Formal ist dafür zwar der Landkreis zuständig, dennoch hält man in Kevelaer Ausrüstung vor, um einen Krisenstab bilden zu können, der auch bei Zusammenbruch von Stromversorgung und Kommunikation „arbeitsfähig“ wäre. Auf praktische Erprobung legt gewiss niemand Wert und so ist in Bezug zum Thema des Abends sein Ausspruch: „Wenn etwas daneben geht, haben wir so und so alle ein Problem“, weniger Eingeständnis mangelnder Vorbereitung vor Ort, als vielmehr Einsicht in die Realität.

Prominente Politiker debattieren über Atomkraftwerk

Seit 2015 sind die drei 33 und 43 Jahre alten Atomreaktoren im belgischen Tihange endgültig vom Netz. Zumindest hätte es so sein sollen, wenn der Beschluss der belgischen Regierung aus dem Jahr 2003 Bestand gehabt hätte. Doch ihre Nachfolger hoben den Beschluss auf und so versetzt der Reaktor, der nicht weit von der deutschen Grenze steht, auch heute noch Belgier und Deutsche in Sorge – denn die Pannen dort reißen nicht ab. Die belgische Regierung hat für die dortige Bevölkerung Jod-Tabletten bevorratet, für den Fall eines Super-GAUs – vor allem wohl eine psychologische Maßnahme. Ganz konkret ist hingegen der Beschluss von April, nun bis 2025 aus der Kernspaltungsenergie auszusteigen.
Vor einigen Wochen wollten die Kevelaerer Grünen von Bürgermeister Dr. Dominik Pichler wissen, wie für Kevelaer die Notfallpläne für den Fall eines schweren nuklearen Unfalls in Tihange aussehen – denn bei Südwestwind ist austretende Radioaktivität in wenigen Stunden auch in der Marienstadt. Zumindest öffentlich wollte der Erste Bürger dazu jedoch nichts sagen – vermutlich, weil es dazu nicht viel zu sagen gibt, liegen die entsprechenden Notfallpläne doch beim Landrat unter Verschluss.
Bürgermeister moderiert
Für Ulrich Hünerbein-Ahlers (Grüne) und Michael Vonscheidt (SPD) war das Anlass, das Thema „Tihange“ stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken zu wollen. Die Idee zu einem Informations- und Diskussionsabend war geboren.
Auch die Teilnehmer waren schnell gefunden: Die ehemalige Bundesumweltministerin Dr. Barbara Hendricks (SPD), die in der Regierung auch für Reaktorsicherheit zuständig war, sagte ebenso gern zu wie der stellvertretende Fraktionschef der Bundestagsfraktion der Grünen, Oliver Krischer. „Zwei Hochkaräter, die beiden sind Fachleute“, freut sich Hünerbein-Ahlers im Gespräch mit dem KB. Als Moderator fragten die beiden Kevelaerer Politiker Bürgermeister Pichler an. Dessen Reaktion: „Klar!“
„Natürlich sollen die Bürger auch Fragen stellen können“, betont Vonscheidt. Es gehe ja darum, Informationen rüber zu bringen und wie man mit der Situation umgehen soll, ergänzt sein grüner Ratskollege. Sollte die deutsche Politik mehr Druck auf Belgien ausüben? Welche Einflussmöglichkeiten gibt es überhaupt? Was unternehmen die belgischen Bürger? „Ich hoffe auf eine rege Diskussion“, so Hünerbein-Ahlers. Denn Hendricks und Krischer seien zwar beide besorgt über Tihange, hätten aber wahrscheinlich trotzdem verschiedene Meinungen: „Die Grünen sind in ihrer Forderung radikaler als die SPD.“
30. Mai um 18.30 Uhr
Organisiert wird der Diskussionsabend jetzt wegen seiner Größe von den Kreisverbänden der beiden Parteien. Ort der Debatte wird das Kevelaerer Bühnenhaus sein und zwar am Mittwoch, 30. Mai, ab 18.30 Uhr.