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Zwischen Hoffnung und Ärgernis

Die Schulen öffnen schrittweise wieder. Grundschul- und Abschlussklassen dürfen wieder in den Präsenzunterricht und haben die lange Zeit des Homeschooling hinter sich. Diese Nachricht brachte nach den Bund-Länder-Beratungen im Februar Erleichterung in viele Familien. Doch immer noch sitzen viele Schüler*innen zu Hause und lernen über digitale Geräte. An manchen Schulen bedeutet das, jeden Tag von morgens bis nachmittags vor dem PC oder Tablet zu sitzen und sich in einer Art Frontalunterricht den Lernstoff anzuhören. Für andere bedeutet es viel Einzelarbeit. Nach dem Beschluss zur schrittweisen Öffnung der Bildungseinrichtungen schwanken auch bei Eltern und Schüler*innen in Kevelaer die Gefühle zwischen Hoffnung und Ärgernis.

Manuela Algra findet, dass es im zweiten Shutdown wesentlich besser laufe als im ersten. Ihre drei Kinder Eelkje, Mats und Marinus gehen auf das Kardinal-von-Galen-Gymnasium in Kevelaer. Bisher sitzen noch alle zu Hause und versuchen zu lernen. Das KvGG sei besser vorbereitet als vergangenen Sommer und es gebe mehr Chancengleichheit, sagt Algra. „Im zweiten Lockdown wurden iPads an Schüler*innen verteilt, die vorher nicht die digitalen Möglichkeiten hatten“, so die 45-Jährige. Auch ihr jüngster Sohn Mats könnte dieses Mal besser lernen. Dennoch braucht der Zwölfjährige im Gegensatz zu seinen älteren Geschwistern immer noch Hilfe von seiner Mutter. Das Erklären überließen die Lehrkräfte wohl häufig YouTube-Videos, die schwer zu verstehen seien. „Die Schüler*innen sind so sehr an die Erklär-Weise ihrer Lehrer gewöhnt, dass es ihnen schwerfällt, sich das von Fremden erzählen zu lassen“, meint Algra. 

Sie hätte sich daher mehr Hilfestellungen für die Eltern gewünscht. Es werde vorausgesetzt, dass die Eltern nun die Lehrerfunktion einnehmen. Bei ihren größeren Kindern laufe das schon besser. Die 13-jährige Eelkje ist in der achten Klasse und bearbeitet so wie der 15-jährige Marinus, der in der EF ist, fast alles allein. Auch wenn Eelkje lieber zur Schule ginge, komme sie mit dem Homeschooling gut zurecht, sagt sie. „Die Lehrer geben sich alle viel Mühe, auch wenn manche immer noch überfordert sind“, sagt Eelkje. Im Moment werden bei ihr keine Klassenarbeiten geschrieben. Ob diese später im Schuljahr nachgeholt werden, steht auch noch nicht fest. Außerdem habe sie in den Nebenfächern momentan mehr Aufgaben als in einem normalen Schulbetrieb. „Wenn wir keine Meetings haben, sind wir auch ziemlich allein mit allem, weil wir ja nicht wie sonst Fragen stellen können.“ Sie hofft, dass die Schule auch für sie demnächst wieder offen ist. 

Neue Strategien aneignen

Vera Meurs fühlt sich ebenfalls von der Schule allein gelassen. Ihr siebenjähriger Sohn besucht die Overberg Grundschule in Winnekendonk. „Wir wurden quasi ins kalte Wasser geschmissen“, sagt die 38-jährige Mutter. Sie habe mit ihrem Sohn große Probleme im Homeschooling gehabt. „Heute lernen die Kinder alles anders als zu meinen Schulzeiten und man muss sich als Elternteil diese Strategien erstmal aneignen“, so Meurs.

Da die Winnekendonkerin und ihr Ehemann berufstätig sind, waren sie auf die Notbetreuung angewiesen, in die Jona jetzt gemeinsam mit drei weiteren Kindern geht. „Er freut sich, seine Mitschüler*innen und Freunde sehen zu können und kann jetzt viel besser lernen“, sagt Vera Meurs. Mittlerweile gibt es wieder mehr Präsenzunterricht an der Schule und an drei Tagen in der Woche findet Unterricht mit der ganzen Klasse statt. Angst, dass sich ihr Sohn dort anstecken könnte, hat Meurs nicht. „Die Kinder müssen auch am Platz ihre Masken tragen und die Schule achtet auf alle Sicherheitsmaßnahmen. Mit 20 Kindern in großen Räumen habe ich keine Bedenken“, erklärt sie. 

Ihre jüngere Tochter Lynn geht zur Liebfrauen-Realschule in Geldern in die siebte Klasse. Ihr falle das Homeschooling auch nicht leicht. „Sie versteht das System nicht gut und daher muss ich mich neben der Arbeit auch um sie kümmern“, erzählt Meurs.

Die Mutter hat Angst, dass ihre Kinder irgendwann schulische Probleme haben werden. Ihre älteste Tochter Mara macht momentan ihren Realschulabschluss an der Liebfrauenschule in Geldern und möchte danach am Berufskolleg Geldern ihr Abitur im Ingenieurswesen machen. Gerade für die 15-Jährige sei die momentane Situation nicht besonders gut für die Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen. Mittlerweile geht sie als Abschlussschülerin zwar wieder zur Schule, aber es ist sehr viel Zeit verloren gegangen. 

Ihre Klasse ist aktuell in zwei Räume verteilt. Ein Teil der Schüler*innen bekommt den Stoff direkt von der Lehrkraft vermittelt und für den anderen Teil wird es per Video übertragen. Allerdings gäbe es technisch manchmal Probleme, sodass die Lehrer*innen zwischen den Räumen pendeln müssten. Dennoch funktioniert der Präsenzunterricht für die meisten  Schüler*innen besser als das bisherige Homeschooling. 

Das soziale Gefüge fehlt

Manuela Algra sieht die große Gefahr  darin, dass vor allem Kinder aus sozial schlechten Verhältnissen am Ende des Schuljahres große Probleme haben werden. „Es ist eine riesige Bildungsschere, die auseinanderklappt“, sagt Algra. Kinder von vollberufstätigen Eltern säßen den ganzen Tag allein vor ihren Schulaufgaben und hätten entweder nicht genug Möglichkeiten oder Motivation, um etwas für die Schule zu erledigen. „Die Eltern bekommen auch überhaupt kein Feedback, weshalb wir schwer einschätzen können, wie es für die Kinder läuft“, kritisiert Algra. Durch das fehlende soziale Gefüge fehle ein großer Bestandteil des gemeinsamen Lernens. 

Ob die Politik schnell genug gehandelt habe, wurde in den vergangenen Wochen häufig in Frage gestellt. Vera Meurs jedenfalls hätte sich gewünscht, dass es früher eine langfristige Lösung gegeben hätte. „Durch die kurzfristigen Lösungen war alles sehr unsicher“, sagt die Winnekendonkerin. Manuela Algra denkt hingegen, dass das Problem eher bei den Schulen liege. An vielen Schulen fehle es an Digitalisierung, die auch schon vor Corona hätte in Angriff genommen werden müssen. Es hätten sich zu wenige Lehrkräfte damit beschäftigt.

Digitalgeräte nicht für jeden

Dass das Homeschooling die Bildungsungleichheit noch einmal verschärft, zeigt auch eine nicht-repräsentative Umfrage der Landeselternkonferenz Nordrhein-Westfalen unter 22.000 Eltern in NRW. Selbst bei den unterschiedlichen Schulformen soll es demnach in NRW einen großen Unterschied im Bereich der Digitalisierung geben. Während 60 Prozent der Gymnasiast*innen digitale Geräte zur Verfügung stünden, seien es bei Haupt- und Realschüler*innen nur 30 Prozent. Die ohnehin schon schwächeren Schüler*innen würden dadurch mitunter noch schwächer. 

Ob diese Ungleichheit nochmal ausgeglichen werden kann, ist noch unklar. Und auch, ob bald wieder mehr Kinder zur Schule gehen dürfen, steht noch nicht fest. „Ich würde mir wenigstens in den Schulen mehr Perspektive wünschen“, sagt Vera Meurs. 

Der Start in die Distanz

„Es ist so, dass wir auf viele Sachen zurückgreifen können“, sagte die Rektorin der Hubertus-Grundschule, Helga Dückers-Janßen. „Wir haben uns in den Weihnachtsferien schon vorbereitet, sodass wir am Montag in die Distanz starten konnten.“

Kurz vor Weihnachten hätten die Kinder, die beim letzten Lockdown kein Endgerät zur Verfügung hatten, eins bekommen. „Wir gehen davon aus, dass jedes Kind ein Endgerät hat.“

Man werde in gut zwei Wochen so weit sein, „dass wir über den Videochat mit den Kindern in Kontakt“ treten können. „Das haben wir noch nicht ausprobiert, aber das steht bereit. Das wär ein neuer Schritt ins digitale Lernen.“ Da werde man keinen Unterricht machen, sondern mit den Kindern über die Aufgaben der Wochenpläne sprechen. Es werde auch Lernvideos geben, auf die die Kinder zurückgreifen können.

Die Kinder bekämen passgenaue Materialien, die sie mit Hilfe der Lernvideos bearbeiten können. „Sie gehen mit uns dann in Kontakt. Wir lassen uns die Ergebnisse zeigen, dass die Kinder eine Bestätigung für ihr Arbeiten bekommen. Motivation ist ein ganz großes Thema.“ Mit den Lernprogrammen habe man schon im Präsenzunterricht gearbeitet. „Das  sind Systeme, die die Kinder seit dem vergangenen Jahr schon bearbeiten. Da können wir sehen, wie oft und wie viel die Kinder gearbeitet haben. Das läuft schon sowohl im Präsenz- als auch im Digitalunterricht.“ Es werde vieles geben, was man nach Corona fortsetzen werde.

Ungünstiges Hin und Her

Dückers-Janßen hofft, „dass wir im Februar mit kleineren Klassen starten können. Das wäre schon toll.“ Denn das Hin und Her von Schließung und Präsenzunterricht sei ungünstig für alle Beteiligten.

Auch der Rektor der Gesamtschule, Christoph Feldmann, sieht die Phase des Distanzlernens gelassen. „Ich gehe da zuversichtlich rein, aber in dem Bewusstsein, dass das nicht gleich Präsenzunterricht ist. „Das soziale Miteinander, das Schule abgesehen vom Lernen als Funktion hat“, das falle weg. Die Voraussetzungen seitens der Schüler seien sicher verschieden, „obwohl viele über die Weihnachtstage ihre mediale Infrastruktur aufgerüstet haben. Damit müssen wir rechnen und wissen damit umzugehen.“

Mit den Lernplattformen „Moodle“ und „Teams“ sei man gut aufgestellt, um ein gutes Angebot zu machen. Klausuren und Klassenarbeiten seien erstmal ausgesetzt. Man sei in der „sehr komfortablen Situation, dass wir über lange Zeit Präsenzunterricht bis in den Dezember hinein hatten, da die Grundlage für die Leistungsbewertung gelegt haben.“

Die stellvertretende Schulleiterinde des Gymnasiums, Christia Dier, sagt: „Wir sind im Gegensatz zum letzten Jahr dahingehend weiter, dass wir das digitale Lernmanagement „moodle“ anwenden. Das haben wir mit den Schüler*innen eingeübt, wie man sich da einloggen und das hochladen kann.“ Und mit den Lehrern fanden Schulungen statt, „sodass wir soweit sind, dass die Kommunikation zwischen Kollegen*innen und den Kleingruppen darüber möglich ist.“ Es gebe auch ein Videotool.

„Das Problem da war, die Server waren zu schnell überlastet.“ Seit der ersten Phase des Distanzunterrichtes habe man einen externen Anbieter dafür. „Montagmorgen hatten wir für die Sek 1 eine digitale Klassenlehrerstunde, damit man die abholt und sagt: Die Ferien sind vorbei und jetzt geht es wieder los. Das fanden wir wichtig, das hat sehr gut funktioniert.“ Die Lernplattform funktioniere sehr gut, „aber wir merken, dass Systeme zu bestimmen Spitzenzeiten in die Knie gehen. Das geht allen Schulen so.“

In Sachen “Klausuren” sei klar, dass laut Erlass in der Sekundarstufe I und der Einführungsphase kei-ne Klausuren bis zum 31. Januar laufen werden. In der Qualifizierungsphase sei das für notwendige Arbeiten möglich.

Drei Schülerinnen geben einen persönlichen Einblick

Drei Schülerinnen der Klasse 9 des Kardinal-von-Galen Gymnasiums Kevelaer dokumentierten ihre Erfahrungen während der Zeit des Homeschoolings, nachdem sie den Unterricht aufgrund einer Anordnung des Gesundheitsamtes sehr plötzlich verlassen und sich in Quarantäne begeben mussten.

Auf die Frage: „Was sollen wir denn jetzt die ganze Zeit machen?“, regte eine Lehrerin des Schulleitungsteams an, die Quarantänezeit aus Schülerperspektive filmisch zu dokumentieren.

Im Austausch mit der Kollegin entstand ein persönlicher und vielfältiger Einblick in einen veränderten und sich verändernden Schüleralltag. Zunächst fiel es den drei Schülerinnen schwer, sich an die neu gewonnene „Schulfreiheit“ zu gewöhnen, was vor allen Dingen die digitale Form des Unterrichts und die zu erledigenden Aufgaben betraf. Jede Schülerin fand aber zunehmend ihren eigenen Lern- und Arbeitsrhythmus:

Sowohl die Teilnahme an Videokonferenzen als auch die Nutzung des Lernmanagementsystems wurde zu einem selbstverständlichen Teil ihres Quarantäne-Alltags. Dennoch sind sich alle drei einig – und hier stimmen die Lehrkräfte des Kardinal-von-Galen-Gymnasiums zu – dass das gemeinsame Lernen in der Schule nicht vollständig durch digitalen Unterricht zu ersetzen ist.

Wer sich die Dokumentation ansehen möchte, findet sie auf der Homepage des Kardinal-von-Galen-Gymnasiums verlinkt unter: www.kvgg.de