Zwei Schauspieler und eine Uhr

Willkommen im digitalen Zeitalter: „Ein Stück für zwei Schauspieler und eine Uhr“ hat Autor Daniel Kehlmann „Heilig Abend“ untertitelt. Zwar ticken unsere Zeitmesser schon lange nicht mehr richtig, aber der Zeitdruck, den eine Digitalanzeige ausübt, ist nicht geringer als der zu Zeiten des Stunden- und Minutenzeigers. Zumal im Hintergrund, außerhalb des buchstäblich „überhöhten“ Bühnenbilds in Betongrau, möglicherweise noch etwas ganz anderes tickt: eine Bombe. Und da wird‘s dann ganz eng, für den Ermittler einerseits, der knapp anderthalb Stunden Zeit hat, herauszufinden ob und wenn ja wo, und für die Verdächtige andererseits, der genauso viel Zeit bleibt, zu erklären ob und wenn ja warum. Ein Theaterstück in Echtzeit, ein Duell mit Worten, das nicht unerbittlich auf zwölf Uhr mittags, sondern auf Mitternacht zuläuft. Das Gastspiel der Konzertdirektion Landgraf am Mittwochabend blieb dabei – durch den geschickt im Zwiegespräch erzählten Plot, aber auch dank der beiden herausragend vielseitigen Mimen Jacqueline Macaulay und Wanja Mues – bis zur letzten Sekunde spannend.

Eine mutmaßliche Attentäterin und ein Staatsschützer, beide in der Situation, sich selbst, ihr Verständnis von Freiheit und Gewalt überdenken zu können, vielleicht vor dem anderen rechtfertigen zu wollen, vielleicht zu müssen – das Spannungsverhältnis bleibt über anderthalb Stunden greifbar. Es verlangt dem Zuschauer Aufmerksamkeit ab. In der Rolle des Beobachters, nicht des parteiergreifenden Zuschauers, verfolgt er Argumente und Gegenargumente – ein wenig kommt es schon dem Ideal einer Gerichtsverhandlung nahe, in die der Zuschauer da hineingerät. Fragen werden beantwortet – und doch gibt es am Ende nicht die eine, die „richtige“ Lösung. Und in dem dramatisch dichten Stück Theater auch kein Urteil: Der Autor stattet beide Charaktere des Zwei-Personen-Stücks gleich stark aus. Wie weit darf man gehen, um auf offensichtliches Unrecht, das keine Beachtung findet, aufmerksam zu machen? Bis hin zum Terroranschlag? Wie weit darf man bei einem Verdacht gehen, um möglicherweise einen Anschlag zu verhindern? Bis hin zur Folter? Und was liegt auf dem Weg dorthin, was führt dorthin? Darf man Freiheit abschaffen, um sie zu schützen? Und wie definieren wir überhaupt Freiheit für uns und für andere?

Durchatmen kann in den anderthalb Stunden niemand so wirklich. Auch das Publikum nicht. Die beiden Schauspieler auf der Bühne schon gleich gar nicht. Auch ihnen verlangt dieses Bühnenstück äußerste Konzentration ab. Jacqueline Macaulay extrahiert aus der zunächst zurückhaltenden, distinguierten Professorin eine zunehmende engagierte Emotionalität, die sie aber mit einer Entwicklung von Unsicherheit zu Stärke einher gehen lässt. Wanja Mues erliegt nicht der Versuchung, dem Ermittler einen in jüngster Zeit oftmals opportunen Stasi-Stempel aufzudrücken, er wirkt zunächst auch wenig hinterhältig oder gar teuflisch-verschlagen, eher wie ein eingefahrener Buchhalter der Exekutive. Doch auch seine Figur entwickelt sich, lernt scheinbar, verwirft, denkt über ihr Tun nach. Zwei herausragend besetzte Schauspieler, die dem schwierigen Stoff auf hervorragende Weise gerecht wurden, eine kongeniale Regie und sehr viel Engagement für den Inhalt, auch in Vor- und Nachbesprechung. Ein Theaterabend, der sich zudem keinen erhobenen Zeigefinger abbricht und hochkomplexe Themen differenziert und doch verständlich darstellte. Verdienter Applaus aus dem leider längst nicht ausverkauften Kevelaerer Bühnenhaus.