Von Liebe und Moral

Der Stoff ist bekannt. Was macht man mit einer Erzählung wie dem „Glöckner von Notre Dame“ von Victor Hugo, den man bereits in so vielen verschiedenen Formen – ob als Theaterstück oder im Film – gesehen hat?

Vor sechs Jahren stellte sich das Puppenspiel-Theater „Con Cuore“ aus Schlitz genau diese Frage – und kam auf die Idee, eine völlig eigenständige Version des Stoffes zu machen, der die Vielschichtigkeit und Doppelbödigkeit von Leidenschaft, Moral, Religion und Sünde in besonderer Form aufarbeitet.

Dazu wählten Virginia und Stefan P. Maatz eigene Texte, Zitate aus literarischen Stoffen wie Umberto Ecos „Friedhof in Prag“, französische Chansons, die die entsprechende Stimmung erzeugten und die Musik aus „Taxi Driver“ – ebenfalls ein Film mit einem „verunstalteten“ Außenseiter, womit die Künstler eine weitere Ebene in die Inszenierung hineinwebten.

Rund um den „Kiosk“ der Frau (als Puppenspiel-Bühne) erfand das Paar die Geschichte um den Priester zu Notre Dame, Claude Emanuel Schmitz, und der Mademoiselle Minou Reinhard.
„Ihre Familie stammt von den Fahrenden und verkauft seit Jahrhunderten vor Notre Dame Souvenirs“, sagt der Priester, kauft täglich dort seine Zeitung und versucht, der Versuchung der Mademoiselle zu widerstehen.

Auf dem Stuhl, der auch wie ein elektrischer Stuhl erscheinen könnte, nebst einer Lampe, die wie ein Galgen erscheint, begehrt er wie in der Kanzel gegen seine Leidenschaft mit Umberto Ecos Zeilen „Die weibliche Anmut besteht nur aus Schleim und Blut“ auf.

Eines Tages liest er von der Sonnenfinsternis, „die uns aus dem Jetzt schleudern kann“, und sich zuletzt „genau vor 500 Jahren, also 1512“ ereignet hat. Und so träumen sich die beiden Protagonisten zurück in die damalige Zeit.

Sie landen in der (Puppenspiel)-Zeit von Esmeralda, die mit ihren tänzerischen Reizen selbst als Puppe so lebendig wirkt, als könne sie jeden Mann verführen. Ihr verfallen sind der verunstaltete Glöckner Quasimodo, der Dompropst Claude Frollo und der eitle Hauptmann Phoebus als Nebenbuhler, der von einem Auftragskiller Frollos getötet wird. Dann soll Esmeralda zu Tode kommen, was Quasimodo zu verhindern weiß.

Das Stück endet mit abgeschlagenen Köpfen – und nach dem „Erwachen“ finden die beiden Liebenden – der Priester und die Zigeunerin – zusammen, frei nach dem prägenden Satz: „Es gibt nur einen schmalen Grat der Liebe, der sich durch die Zeit schlängelt und den wir oft nur im Traum ertasten.“

70 Minuten lang zog das Paar mit seinem ruhigen Spiel, dem fesselnden Plot und sehr natürlich-menschlich wirkenden Figuren die Zuschauer in ihren Bann. Dabei gelang es ihnen, die Doppelmoral des Priesters („Die Sünde ist durch die Sünde in die Welt gekommen“) zu entkleiden und dem Stoff eine dramatisch-philosophische Tiefe und Vielschichtigkeit zu verleihen, die das Publikum in der Darstellung sehr berührte.