Und dann kippte die Giebelwand

Es ist ein Albtraum: Von einem auf den anderen Tag mussten Ute und Hermann-Josef Ingenbleek aus ihrem Haus ausziehen – „nicht mehr bewohnbar“, hatte das Bauamt erklärt. Die Bodenplatte ist gerissen, die Giebelwand kippt mehrere Zentimeter zur Seite. In den Wänden klaffen dicke Risse. Von jetzt auf gleich steht das Kevelaerer Ehepaar am Rande seiner Existenz – unverschuldet.
Denn das Haus an der Gelderner Straße 63 ist zwar alt und denkmalgeschützt. Doch zerstört hat es nicht etwa mangelnde Pflege durch die Eigentümer, sondern wohl die Erdarbeiten der Baufirma, die nebenan einen Neubau errichtet, und wohl auch die Leichtfertigkeit des Bauamtes der Stadt Kevelaer. Im Gegenteil: Als Ingenbleeks das Haus erbten, haben sie es für viel Geld kernsaniert. Und praktisch mit Fertigstellung der Sanierung im Jahr 2007 begann die Tragödie.
2008 stand das Nachbarhaus Nr. 61 in Flammen. Das Wasser der Lösch­arbeiten zerstörte auch die Böden und weitere Bereiche im Haus der Ingenbleeks. Als 2013 die Firma Lueb das niedergebrannte Nachbarhaus abreißt, habe niemand dafür eine Abrissstatik erstellt. In der Folge des Abrisses entstehen am angrenzenden Giebel der Ingenbleeks Setzrisse, ebenso im angebauten Nachbarhaus Nr. 65 der Familie Kuhnekath. Willi Kuhnekath kann nicht verstehen, dass das Bauamt den Abriss ohne entsprechende Statik genehmigt hat. Alter und Bauweise der teils denkmalgeschützten Nachbarbebauung müssen dort bekannt sein.

Auch an Haus Nr. 65 ziehen sich die Risse durch das gesamte ­Mauerwerk der denkmalgeschützten Fassade.

Auch an Haus Nr. 65 ziehen sich die Risse durch das gesamte ­Mauerwerk der denkmalgeschützten Fassade.


Doch erst nachdem die Firma Lueb ihre Neubaupläne verwirft und ein neuer Investor auf den Plan tritt, erreicht die Tragödie ihren Höhepunkt. Anstelle einer Bebauung, die sich in Form und Größe gut in die Nachbarschaft gefügt hätte, wird kurzfristig der Bebauungsplan geändert. 21 Wohneinheiten inklusive Tiefgarage entstehen nun dort. Wuchtig und aus Sicht vieler Kevelaerer ein Fremdkörper wird der Neubau, der die Gärten der Nachbarn stark beschattet. Die Größe, die Bauart, die Beschattung der Nachbarn – mancher Anwohner wundert sich, dass ein Bauamt so etwas genehmigt. Doch selbst die Politiker im Rat der Stadt winken die Änderung des Bebauungsplans durch – und staunen heute selbst darüber, was sie da getan haben (das KB berichtete). „Uns haben weder die Stadt noch der neue Bauherr über die geänderten Pläne informiert“, moniert Veronica Jennen, die in Nummer 57 wohnt.
Im April finden schließlich auf der Baustelle durch die Firma B&K Wohnbau aus Wesel die Arbeiten für die Tiefgarage statt. Schon mit Blick auf den Aushub habe ihr Mann angemahnt, der Giebel seines Hauses müsse dazu unterfangen werden, berichtet Ingenbleek. Er sei auf taube Ohren gestoßen. Als dann die Stahlträger in den als schwierig begutachteten Boden nicht etwa nur gebohrt, sondern teilweise geschlagen wurden, sei es passiert, schildert Willi Kuhnekath: Die Nachbarhäuser gerieten in Bewegung und die eingangs geschilderten massiven Schäden an Nummer 63 und 65 entstanden. „Wir sind vor Angst alle aus dem Haus gerannt, so hat es gewackelt“, erinnert sich Jennen.
Das Bauamt erlässt einen Bau­stopp und Ingenbleeks müssen ausziehen. Silvia Kuhnekath weist das Bauamt auf einen großen Riss in ihrem Haus entlang eines Fensterrahmens hin. Ihre Sorge: Das Fenster könnte rausbrechen und auf den Bürgersteig stürzen. Eine Mitarbeiterin des Bauamts kommt, macht Fotos – und das ist bis heute das letzte, was Kuhnekaths zu diesem Thema gehört haben.
Im Stich gelassen
Inzwischen wird auf der Baustelle wieder gebaut, die Firma B&K Wohnbau hat vor den Giebel von Nummer 63 Ankerplatten gesetzt, Familie Ingenbleek dürfte wieder einziehen, sobald die Schäden behoben sind. Doch die sind immens. Aus den Rissen bei ihnen und bei Kuhnekaths rieselt es weiter, denn die Risse in den Wänden wachsen noch immer, eine Zimmerdecke beginnt sich zu senken. B&K Wohnbau habe die Verantwortung übernommen und wolle die Schäden bis Ende August beseitigen, berichten die Nachbarn. Doch wie genau das geschehen soll, das bleibe offen. Damit, die Risse zuzuspachteln, sei es schwerlich getan. Ein statisches Gutachten, dass das Gebäude sicher sei, lege die Firma nicht vor. Vielmehr habe sich ein Statiker, der das Objekt besichtigt hat, geweigert, dazu etwas zu unterschreiben, schildert Willi Kuhnekath. Gutachten im Auftrag der Eheleute Ingenbleek zu bezahlen, lehne die Baufirma jedoch ab und bezeichne diese als unnötig. Überhaupt haben Ingenbleeks in den vergangenen drei Monaten lediglich Geld für den Umzug gesehen, noch keinen Euro für die Mietkosten, für Einlagerung oder Entsorgung der Möbel, etc.. Bei einem Kaufangebot für das Haus, das die Baufirma zwischenzeitlich gemacht habe, zweifeln Ingenbleeks daran, den ursprünglichen Wert des Hauses zu erhalten.
Doch um genau diesen Wert ihres Hauses geht es auch dem Ehepaar Kuhnekath. Einsturzgefährdet ist ihr Haus sicher nicht. Wohl aber so stark geschädigt – und solange die Probleme des Nachbarhauses nicht behoben sind, vergrößern sich auch hier die Risse –, dass man von einem erheblichen Wertverlust ausgehen muss. Und für Kuhnekaths wie für Ingenbleeks sollte das Eigenheim ein wichtiger Teil der Altersvorsorge sein.
„Das sind schöne alte Häuser, und schön sollen sie auch wieder werden“, fordert Willi Kuhnekath. Bevor er der Baufirma erlaube, mit den eigenen Leuten „durchs Haus zu gehen“, um die Schäden zu reparieren, möchte er informiert werden, was gemacht werden soll und sich dieses Vorgehen durch unabhängige Fachleute bestätigen lassen.
Ihn wundert, dass die Stadt mit Blick auf den Denkmalschutz der Häuser das nicht ebenso fordert. Hätte er die Fensterrahmen in einer anderen Farbe gestrichen, hätte das wohl Ärger bedeutet. Dass dieses Fenster und die Fassade nun schwere Schäden haben, scheine die Behörden hingegen nicht zu interessieren. Bei den Bewohnern der Häuser habe sich jedenfalls noch niemand gemeldet. „Wir fühlen uns vom Bauamt im Stich gelassen“, sagt Willi Kuhnekath. Selbst wenn die Stadt nachträglich nichts mehr tun könne, hätte es den Nachbarn schon geholfen, wenn jemand Interesse an ihren Problemen gezeigt und vielleicht den ein oder anderen Rat gehabt hätte.
Auch der Baufirma möchten die Nachbarn nicht unterstellen, ihrer Verantwortung aus dem Weg zu gehen. Doch der bisherige Eindruck sei, dass die Reparatur eher möglichst billig statt fachgerecht von Statten gehen solle. Deswegen wolle man nun die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Vorgänge lenken. „Geschmack ist eines“, betont Kuhnekath mit Blick auf die strittige Gestaltung des Neubaus. „Aber wenn man in seinem Haus nicht mehr wohnen kann oder es keinen Wert mehr hat, hört der Spaß auf.“
Die Firma B&K Wohnbau hat auf Anfrage des Kevelaerer Blattes mitgeteilt, einige – nicht näher benannte – Fakten anders zu sehen und an ihre Rechtsvertretung verwiesen. Diese sieht sich urlaubsbedingt nicht im Stande, vor dem 14. August eine Stellungnahme abzugeben. Aus der Stadtverwaltung Kevelaer gab es bislang keine Reaktion.