Wer seit Jahrzehnten Sonntag für Sonntag ein Millionenpublikum erreicht, muss zwangsweise mit einer Menge unterschiedlicher Auffassungen rechnen. Er, beziehungsweise in dem Falle sie, die ARD nämlich, kann also bei „Tatort“ und „Polizeiruf 110“ nicht alles falsch gemacht haben. Sonst wären diese Sonntagabend-Ikonen längst vom Sendeplatz oder ganz aus dem Programm geflogen. Weil dem aber nicht so ist, hat quasi jeder, der einmal einen Sonntagabend mehr oder weniger gut unterhalten vor einer öffentlich-rechtlichen Mattscheibe verbracht hat, eine Meinung zu den Krimis der Sendeanstalten, die sich eben auch nach dem Zeitalter der „Straßenfeger“ immer noch großer Zuschauerzahlen erfreuen.
So hat auch das Theater diese Fernseh-Reihe als gesellschaftliches Phänomen entdeckt. In diesem Fall das Landestheater Detmold, das mit „Tatort 110“ am Montagabend – da klang im Publikum der sonntägliche Ruf aus Rostock teils noch nach – im Kevelaerer Konzert- und Bühnenhaus gastierte. Hannah Frauenrath hat dazu ein Stück mit dem Untertitel „Zwei Krimisierien auf der Spur“ inszeniert, das mit 75 Minuten schneller ‘rum ist als eine besagte Serienfolge, aber mindestens so spannend, berührend, analysierend und offenbarend daherkommt.
Die Figuren, die sich vom Sonntagabend-Set vor der Glotze (Mama, Papa, Kind sitzen bei obligatorischer Pizza auf der Wohnzimmercouch) plötzlich lösen und all‘ die tausend Fragen, die Folge für Folge in der sozial-medialen Nachbesprechung oder -beschimpfung diskutiert werden, aufnehmen, stellen und genauso schnell wieder verwerfen, knüpfen auf der Bühne ein Netz aus Hin- und Verweisen. Um sie aufzuzeigen, nicht, um diesen Fall zu lösen.
Einerseits sind sie die Vor-dem-Fernseher-Familie, die mit ungetrübtem Blick den Flachbildschirm durchdringt und bekannte Verhaltens- und Verschleierungsmuster sofort erkennt, wo die Kriminaler noch im Dunkeln tappen. Andererseits verwandeln sie sich in diverse und diverse männliche wie weibliche Täter, Opfer, Gerichtsmedizinier oder Kommissare, die wir alle kennen, ja vielleicht sogar mögen. Auch wenn hier das Blut entgegen gängigen Gepflogenheiten erst zum Schluss fließt – das ist in diesem Falle kurz bevor aus dem TV die Vorspannmusik zum Tatort ertönt – der Reigen ist der gleiche wie in den allermeisten Filmgeschichten: Jeder hat ein Geheimnis, jeder kann‘s gewesen sein, die Polizei ermittelt in alle Richtungen und wieder zurück über falsche Fährten und faule Alibis bis hin zum schier unvermeidlichen Showdown.
Das Ganze schwankt – wie die Sonntagabend-Serien zumindest seit der Wendezeit – auch hin und her zwischen stets bemühter Realitätsnähe und offenkundigem Satire-Ausbruch, zwischen Kriminaltechnik und Komödienstadl. Da spricht die Leiche und sagt, wie schwer sie‘s hat unterm Tuch, da zeigt sich ein durchaus ernsthafter Konflikt zwischen Ehegatten und/oder Kind, da machen Lieder lachen und weinen und getreu der Ankündigung der Tochter zu Beginn werden die Ebenen kräftig verschoben.
Katharina Otte, Linda Sixt und Patrick Hellenbrand verstehen ihr Bühnenhandwerk so gut, dass man sie unwillkürlich schon am Filmset vor sich sieht.
Die Bühne, mehr für ein Studio denn für eine Stadthalle konzipiert, überzeugt dennoch mit zwei dreh- und verschiebbaren Räumen, die, passend zum Thema, Blicke aus unterschiedlichen Richtungen ermöglichen.
Einzig die Frage, wie lange das noch so weitergeht mit den Serienkrimis und deren offensichtlich öffentlich-rechtlicher Relevanz, die wird auf der Bühne nicht wirklich beantwortet. Vermutlich so lange, wie es Tatorte gibt, die Polizei noch gerufen wird und sonntagsabends der Strom nicht ausfällt.
Das Publikum in Kevelaer dankte für den Montagabend mit viel freundlichem Applaus.