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Auf einem besonderen Weg

Wenn man auf den Kevelaerer Linus Schax trifft, entsteht ein klares Bild: Vor einem steht ein intelligenter, aufgeweckter junger Mann. Der Schüler geht in die neunte Klasse der Gesamtschule, hat mit Deutsch und Sport seine Lieblingsfächer. „Das macht mir irgendwie Spaß“, meint Linus. Acht Jahre lang spielte er beim KSV Fußball, heute ist er beim Badminton aktiv. Doch dass er so klar mit kurzem Seiten-Haarschnitt und Jeans als Linus vor einem sitzt, war für Außenstehende und auch für seine Familie vor einem Jahr außerhalb jeglicher Vorstellungskraft. Denn geboren wurde Linus als Mädchen – und ist es biologisch noch heute.

„Ich habe das eigentlich schon immer gemerkt“, meint der junge Mann. Und als ich in die Pubertät kam, habe ich gemerkt, dass ich kein Mädchen bin“, sagt er heute. Da es beim Fußball damals keine Mädchenmannschaft gab, spielte er als Mädchen immer bei den Jungs mit. Später gab‘s eine Mädchenmannschaft, da fühlte er sich aber unwohl. „Mir war halt so klar, dass die sich halt duschen müssen und das wollte ich nicht. Ich wollte die Distanz wahren“, erinnert er sich. In der dritten Klasse trug er dann Mädchenkleider. „Ich habe ‚versucht‘, ein Mädchen zu sein.“

Die Erkenntnis, dass er eigentlich ein Junge ist, die entwickelte sich nach und nach: „Ich habe schon ab der dritten Klasse darüber nachgedacht, wer ich bin.“ Er merkte früh, „dass ich nicht so auf schicke Sachen stehe.“ In Mädchenkleidung „hab ich mich nie so richtig wohlgefühlt.“ Als er dann in die achte Schulklasse kam, „merkte ich, dass ich auf Mädchen stehe.“ Und als er dann versuchte, seine Gefühle zu ordnen und im Internet surfte, stieß er auf den Begriff „Transgender“. Über Instagram kam er dann mit Personen in Kontakt, die selbst Transgender sind. „Und ich habe gemerkt, dass ich so fühle wie sie.“

Hand in Hand über den Schulhof

Schon in der siebten Klasse fiel ihm ein hübsches Mädchen ins Auge. „Die ist jetzt meine Freundin – an Weihnachten sind es ein Jahr, ein Monat und ein paar Tage.“ Sie hatte sich in ihn als Mädchen verliebt. „Ich hab ihr dann im November 2018 früh genug gesagt, dass ich ‚Transgender‘ und ein Junge bin.“ Sie sei „erst etwas nachdenklich“ gewesen. „Aber sie hat mir gesagt, dass sie hinter mir steht und das unterstützt. Da habe ich mich sehr drüber gefreut.“ Mittlerweile gehen beide Hand in Hand über den Schulhof. 

Anfang des Jahres stellte Linus dann in eine Whatsapp-Gruppe der Schulklasse einen Post, in dem er sich offen outete. „Ich wollte für die als Junge darstehen“, erklärt Linus. „Ich hatte schon Angst davor, aber alle haben positiv reagiert.“ Denn selbst dort habe man wahrgenommen, „dass ich nicht das typische Mädchen bin.“ Seine Schwester Leonie zog er ins Vertrauen. „Ich finde es normal, weil er sich so nicht verändert hat. Er ist dieselbe Person, sieht aber anders aus“, meint die 19-Jährige.

Dann erzählte es Linus seiner Klassenlehrerin. „Das wirkte so, als habe sie auch ein bisschen damit gerechnet“, sagt er. Die redete dann mit dem Abteilungsleiter, sodass dann eine Regelung für die sensible Frage getroffen wurde, wie man das formal mit dem Namen hält. „Auf den Listen im Klassenbuch steht Linus, auf den Zeugnissen steht der Mädchenname.“

Komplettes Neuland

Der schwerste Schritt war der, es der Mutter zu sagen. „Das war ein Freitag. Ich hab‘ vor der Schule einen Brief geschrieben, wollte an dem Tag vor dem Nachhause­gehen noch die Zeit rauszögern. Sie machte da die Wäsche, kam später zu mir ins Zimmer und sagte, dass wir am Sonntag mal in Ruhe darüber reden.“ Was er wahrnahm, war, dass sie traurig darüber war. „Ich konnte mir das nicht so vorstellen, dass es schwer für sie sein kann“, zumal es für ihn durch die intensive Beschäftigung so sonnenklar war. Doch für seine Mutter Ramona war die Situation komplettes Neuland – zumal Linus, der bis dahin ihre Tochter war, bis zu dem Zeitpunkt nicht offen ihr gegenüber über solche Gefühle gesprochen hatte.

„Er kam in der 28. Woche mit 550 Gramm zur Welt, war drei Monate lang im Krankenhaus mein absolutes Sorgenkind“, erinnert sich die 39-jährige Bäckereifachverkäuferin auch daran, dass Linus als Mädchen „ein sehr ruhiges, zurückhaltendes Kind“ war, bei dem selbst die Großeltern Probleme hatten, an ihn ranzukommen. Zum Anfang zog sich das junge Mädchen natürlich mehr mädchen-like an. „Das hörte so im vierten Kindergartenjahr auf. Da gingen wir dann immer in der Jungen-Abteilung einkaufen. „Mit Kleidern konnte sie nix anfangen. Da gab es schon Jeans, Turnschuhe und neutrale Hemden.“ Und sieben Jahre lang „kannte man sie immer nur mit Trikot und dem Fußball unter dem Arm.“

Signale nicht richtig wahrgenommen

Schon da fiel Mutter Ramona die Zielstrebigkeit und der Ehrgeiz des Kindes auf. „Selbst auf dem Geburtstag, wo die Familie zum Frühstück kam, hieß es: ich muss spielen.“ Sie hatte auch mitbekommen, dass „die anderen Mädchen fies“ wurden und dem Mädchen signalisierten, „dass sie kein richtiges Mädchen ist.“ In dem Moment hatte sie das aber gar nicht so ernst genommen. Erst heute wird ihr nach und nach bewusst, dass all diese Mosaike zum Bild eines Jungen passen.

Dass Linus sich über Instagram geoutet hatte, wusste Mutter Ramona nicht. Als sie den Brief auf dem Küchentisch fand und las, „bin ich aus allen Wolken gefallen.“ Zumal so eindeutige Sätze dort standen wie „Geht mit mir den Weg oder ich gehe ihn alleine und dann bin ich weg.“ Von diesem Tag an, sagt Ramona Schax, „hatte ich ein anderes Kind.“ Sie brauchte erstmal ein paar Tage, um das sacken zu lassen. Mit Schlafen war in der Zeit nicht viel. „Mir wurde klar, dass er sehr viel über die ganze Zeit mit sich selbst ausgemacht haben muss, da er mit sich gekämpft hat: Was ist mit mir los?“ An dem Sonntag danach saßen beide in der Stadt im Café bei Kakao und Waffeln. „Und ich hab‘ ihn dann gefragt: Wie stellst Du Dir das vor?“ Da hatte Linus schon Adressen von Beratungsstellen parat.

Im Anzug konfirmiert

Den Anruf bei der Beratungsstelle, den zögerte sie noch raus. „Das fiel mir erst schwer.“ Schließlich landete sie in Düsseldorf, wo sie sofort einen Termin bekam. Die gesamte Familie mit Linus‘ großer Schwester Leonie und dem Lebensgefährten der Mutter fuhr da mit. Linus sprach dort erst mit der Beraterin allein, die formulierte dann, was Linus sich wünscht. „Er wollte da schon so viel auf einmal.“ So entstand die Situation, dass Linus im Anzug konfirmiert wurde „und wir ihm dann versprochen haben, uns zu bemühen, ihn künftig Linus zu nennen.“ Die Konfirmanden sprachen ihn schon als „Linus“ an, „die Pfarrerin sagte immer noch den anderen Namen“, erinnert sich Ramona Schax. „Sie wollte davon nichts wissen und hat darüber weggeguckt.“

Den Mädchen-Pferdeschwanz, der dem gemeinsamen Friseurbesuch zum Opfer fiel, hat Ramona Schax zur Erinnerung in eine Tüte gepackt. „Dort habe ich mich richtig für ihn gefreut, weil sich das ganze Gesicht hin zum Strahlen verändert hat.“ Und wie die Schule damit umgehe, begeistere sie: „Sie wollen ihm eine eigene Toilette geben, eine eigene Umkleide hat er schon in der Lehrerumkleide.“ Das Gespräch mit der Mutter der Freundin von Linus, das verlief dann gleich auch ganz locker. „Er hatte schon mit ihr darüber geredet, da war ich fassungslos.“ In der Familie ist das Thema nicht immer leicht zu händeln. „Opa hat eine Woche nicht geschlafen – der akzeptiert das, hat aber noch Hemmungen. Und meine Mutter ist sehr bemüht, ist eine von denen, die sagt: Das habe ich schon immer geahnt.“

Mit der Tatsache, dass man nicht von heute auf morgen vom Mädchen zum Jungen mutieren kann, kommt Linus nicht immer so gut klar. „Die meisten sind halt schon weiter als ich, nehmen schon Testosteron. Wenn ich höre, wie sich die Stimmen der anderen verändern, dann will ich das auch haben.“ Über Instagram habe er seinen „besten Freund“ kennengelernt. Und es gebe auch Kontakte zu mehreren Leuten, die so empfinden. „Eine Person wohnt auch in Kevelaer, ist sich aber noch nicht so sicher.“ Einer seiner wichtigsten Weihnachtswünsche, der hat sich eigentlich schon erfüllt. „Dass ich Linus genannt werde von allen, die mir wichtig sind, dass ich so akzeptiert werde.“ Und selbst sein Opa, bei dem seine Mutter dachte, es könnte schwierig werden, sagte, dass es für ihn okay ist. „Zu meinem Geburtstag am 1. September wurde ich von allen schon Linus genannt.”

Es gehören einige Operationen dazu

Was er wahrgenommen hat, ist, dass er „offener und viel selbstbewusster geworden“ ist. „Ich habe auch bessere Noten in der Schule“, war das offene Bekenntnis für ihn offensichtlich so etwas „wie eine Befreiung.“ Der andere, große Weihnachtswunsch ist natürlich jetzt, „dass mein Körper so wird wie ein biologischer Junge und dass man so in der Pubertät ist wie ein Junge.“ Er sei sich klar darüber, „dass es sieben oder acht Operationen dazu gibt“ und man erst mit 17 oder 18 Jahren damit beginnen wird. Sicher habe er ein bisschen Angst davor, aber „ich weiß, dass ich es möchte.“ Die Brustentfernung wolle er auf jeden Fall „und das unten rum auch.“ Seine ganz klare Ansage lautet: „Ich zweifle nicht daran.“

Seit Anfang Juni fährt Linus regelmäßig mit seiner Mutter oder deren Lebensgefährten zu Sitzungen bei einer Psychologin in Düsseldorf. „Da muss ich ein Jahr in Therapie hin, damit sie sich klar darüber wird, dass ich tatsächlich Transgender bin.“ Linus, so sagt er, sei sich darüber im Klaren, „dass das eine Lebensentscheidung ist.“ Aber er wisse, „dass ich bald auch soweit bin. Ich werde versuchen, Geduld zu haben. “

Mit Testosteron werde man im nächsten Sommer wohl anfangen, meint Ramona Schax. „Aber da muss der Psychologe grünes Licht geben und ein Gutachten muss bestätigen, dass er schon soweit ist.“ Eineinhalb Jahre müsse man da schon warten, bis man mit Medikamenten anfangen darf. „Aber eines, das ist sicher“, meint die Mutter: „Dass es ein aufregendes neues Jahr wird.“ 

Ein ermutigendes Statement

„Warum schickt ihr uns eigentlich keinen Film?“, seien vor wenigen Monaten die Worte des Gründers des Filmfestivals New York gewesen, erzählt Brix Schaumburg. „Weil wir keinen haben“, lautete seine Antwort. Fünf Tage später war der Grundstein gelegt. Der Künstler Brix Schaumburg, National Director des deutschen Teams für die Weltmeisterschaften der Künste in Hollywood, und Wilhelm van de Loo, Director of Photography, beschlossen, den Film „Inside|out“ zu drehen. Ein Film, der den Selbstfindungsprozess eines Transgenders thematisiert. Brix Schaumburg wollte mit dem Film ein positives und ermutigendes Statement setzen. Denn auch er selbst kam im Körper einer Frau auf die Welt und lebt heute sein ganz normales Leben als Mann mit seiner Frau.

Eine gute Vertrauensbasis

Vor zwei Monaten startete das Projekt der beiden Kevelaerer. Die waren in der Zeit nur selten zur selben Zeit am selben Ort, die Produktion des Films funktionierte dennoch. Hier traf man sich mal, um eineinhalb Tage zu drehen, und dann war man „wieder zerstreut“, lacht Wilhelm van de Loo. Er ist überzeugt davon, dass das Vorgehen „so gut funktioniert hat, weil Brix uns vertraut hat.“

Zwei Monate Projektphase und in Stunden umgerechnet eine ganze Woche durchgehende Arbeit liegen hinter Brix und seinem Team. Das Ergebnis ist der 6:43 Minuten lange Film. Nun wird er beim internationalen Filmfestival Manhattan in New York zu sehen sein, das vom 16. Oktober bis 20. Oktober läuft. Brix Schaumburg selbst bezeichnet den Film als „eine schöne Kurzgeschichte mit wenig Worten.“ „Die heißeste Szene“ sei auf dem Kapellenplatz gedreht worden, fügt er schmunzelnd hinzu.

Wilhelm van de Loo. Foto: privat

Auch wenn heute beide nicht mehr in Kevelaer leben, der Bezug zur Wallfahrtsstadt ist klar. Brix Schaumburg und Wilhelm van de Loo fühlen sich beide als waschechte Kevelaerer. Sie wuchsen beide hier auf und Brix hat seine Frau sogar in Kevelaer geheiratet. Außerdem steht er unter anderem in Kevelaer Menschen zur Seite, die in einer ähnlichen Situation sind wie er damals und die damit oft nicht leicht durchs Leben gehen.

Das Team habe „wahnsinnig viele Themen in wenige Worte in einen 6:43 Minuten-Film gepackt“, zeigt sich Brix zufrieden mit dem Endergebnis. Er wolle „auf emotionaler Ebene Leute erreichen. Das wäre der Traum.“ Dass seine Mutter nun auch nach New York reist, rührt ihn sichtlich und das ist mehr, als er sich jemals hätte erträumen können für das Projekt, das doch damals so spontan entstanden ist.

Film in Kevelaer

Am 2. November 2019 wird Brix seinen Film in Verbindung mit einer Lesung und einem Gesangsauftritt auch in Deutschland zeigen. Ob er den Film auch in Kevelaer zeigen möchte? Auf jeden Fall! Dafür bräuchte das Team allerdings den passenden Rahmen. Vorstellen könnten sie sich eine Präsentation mit passendem Programm unter anderem im Museum oder im Konzert- und Bühnenhaus. Für Anfragen steht sein Manager Kolja Schallenberg zur Verfügung unter info@koljaschallenberg.de.

Gute Neuigkeiten für die Reise nach New York hat Brix kurz vorher spontan auch noch erhalten: Er ist nominiert für das beste Musikvideo und das beste Promo-Video. „Also mit diesen News fliege ich schon mal hin“, freut sich der Künstler. Was dann in New York passierte? Brix räumte mit seinem Team beide Titel ab. Ein weiterer Gewinn ist ein Stipendium für einen Intensivkurs an der Filmschule in Manila (Philippinen).