Beiträge

Figuren, die lebendig werden

Dieser Michael Kohlhaas ist so einer, von dem man sich nicht nur in Pandemie-Zeiten fernhalten will. Kann man aber nicht. Denn das, was die „Bühne Cipolla“ da zum Abschluss der Bühnensaison in Kevelaer auf die Bretter des Bühnenhauses brachte, war so intensiv, dass eine spürbare Gänsehaut die coronabedingten Lücken im Zuschauerraum vollständig ausfüllte.

Die Bühnenfassung, die 2017 Premiere feierte und die Autor, Schau- und Puppen-Spieler, Regisseur, Bühnen- und Maskenbauer Sebastian Kautz aus  Kleists Klassiker machte, ist in vielerlei Hinsicht besonders: Erstmal ist die Vorlage eine Novelle, also eher ein dickes Buch mit Anlage zum Kopfkino als eine Bühnenbreitseite. Den Erzähler, dem bei Kleist eine wichtige Rolle zukommt, lässt Kautz in seiner Spielfassung komplett weg und gibt dafür den handelnden Charakteren mehr Raum. Die Handlung wiederum setzt er über fantastische Puppen um, die, mal nur Maske, mal überlebensgroß und -echt, ihr Innerstes nach Außen tragen. So wird Kohlhaas‘ Gegenspieler, der Junker, zur hässlichen Fratze, der Knecht zum fröhlichen Smiley, der Nachbar zum Gartenzwerg und Martin Luther samt einberufenem Tribunal zu Kasperle-Handpuppen.

Das Tribunal.

Nichts auf dieser zunächst mit halb durchsichtiger Malerfolie verhüllten Bühne bleibt dem Zufall überlassen, die alten Ölfässer haben Aufgaben als Tische, Särge, ja selbst als glimmende Stadtteile; die Teppiche am Boden werden irgendwann zu Karten, auf denen sich die blutige Spur des zum Terroristen gewordenen Kohlhaas übers Land zieht. Einfühlsam unterstützt wird das alles durch ein ausgeklügeltes Lichtkonzept und den Musiker Gero John, der mit Cello und Keyboard zwischen Soundeffekten und Filmmusik ein ständiger, einfühlsamer Begleiter der Szenen ist.

Hipster und Hagens

Die Figur des Pferdehändlers, die Sebastian Kautz zumeist als Oberkörper vor sich her führt, macht auf offener Bühne eine sensationelle Verwandlung durch. Zu Anfang tritt der Geschäftsmann im grauen Zweireiher und mit rotem Hipster-Vollbart auf; am Ende gleicht er, ohne Haar und Kleidung, einem von Gunther Hagens präparierten Menschenkörper.

Die Aufführung strotzt vor Ideen und berührt – auch auf die den aktuellen Zeiten geschuldete Entfernung – die Zuschauer spürbar. Und da kommt wieder der Erzähler ins Spiel, denn trotz aller Kommentare durch die Charakterisierung der handelnden Personen bleibt die Frage der Kleistschen Novelle nach dem schmalen Grat zwischen berechtigter Empörung gegen eine ungerechte Obrigkeit und skrupelloser Selbstjustiz offen.

Dieses Stück aus der Reihe „Puppenspiel 18+“ hatte die große Bühne definitiv verdient. Seit Mitte März sei es die erste Aufführung des Stücks vor Publikum gewesen, sagte Kautz nach lang anhaltendem Applaus und Bravo-Rufen im Kevelaerer Bühnenhaus. Er bedauerte, dass ein gemeinsames „Nachspiel“ mit dem Publikum, das sich üblicherweise Bühne und Puppen ansehen und mit ihm und Musiker Gero John über die Produktion austauschen könne, in Corona-Zeiten nicht stattfinden kann. Aber er bot an, mit einer neuen Produktion in einer neuen Spielzeit wiederzukommen. Und das allein lässt schon hoffen.