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Wenn Menschen offen über Ängste sprechen

Seit August 2016 betreibt die gebürtige Kevelaererin Melanie Lassmann „mit Fröhlichkeit und Temperament“ ihre Praxis für Naturheilkunde, Gesprächstherapie und Coaching an der Venloer Straße. „Ich lebe zwar jetzt in Köln, bin aber an zwei Wochentagen hier“, sagt die 48-Jährige.

Mittelfristig soll das auch so bleiben. Zu ihr kommen „total unterschiedliche Leute“, berichtet sie. „Wichtig ist meine Präsenz vor Ort. Das persönliche Gespräch ist das, was die Menschen brauchen.“ Oft komme jemand mit einem Thema und „geht mit einem anderen“, weil wir zusammen erarbeiten, dass das nicht das Thema ist, das an erster Stelle steht. Sie gebe den Menschen „Zeit, sich zu öffnen, sich selber zu erfahren und sich selber zuzuhören.“ Niemand werde von ihr dabei in eine Schublade gesteckt. „Ich stelle dabei nur mal den Scheinwerfer um. Da den Blick anheben, reicht oft schon.“

Darüber breche man oft innere Barrieren. „Es sind oft selbst auferlegte Einschränkungen und Denkmuster, die einen blockieren.“ In der Zeit von März bis Mai ging in Sachen Gesprächstherapie gar nichts. „Da war ich nicht da. Ich musste schließen. Da hatte ich auch dran zu knacken, weil die Leute gerade da jemanden brauchten, der zuhört.“ Online-Coaching habe sie versucht, aber Menschen vis-à-vis zu erleben, das sei halt wichtig. „Wie die Körperhaltung ist, die kleinen Reaktionen, wie sich jemand verhält.“

Als sie dann die Praxis im Mai wieder eröffnete, „da war ordentlich was los hier.“ Die „Angst-themen und Unsicherheiten auf verschiedensten Ebenen“ kamen da zum Vorschein. Und die äußerten sich auch körperlich. Es gebe vor allem Schlafstörungen, aber auch nervöse Magengeschichten, Verdauungsprobleme und dieses diffuse Gefühl, dass irgendetwas nicht rund läuft. Und tatsächlich gebe es auch einige Menschen, die Panikattacken haben, Angstzustände, die den Alltag halt schwer machen.

Die Corona-Maßnahmen selbst seien in ihren Gesprächen ein Riesenthema. Es gebe Menschen, die Probleme damit hätten, Masken zu tragen, „verbunden mit dem Gefühl, da ist wenig Freundlich-keit draußen gerade. Man sieht immer nur Augen, die nicht lachen oder strahlen.“ Sie spreche auch mit vielen Selbstständigen, die das existenzielle Thema, „wie es am nächsten Tag weitergeht“, mitbringen. Eine Lösung auf dem Silbertablett könne und wolle sie da nicht präsentieren.

„Ich versuche, mit den Leuten an ihrer Haltung zu arbeiten, den Blick zu heben: Du lebst in Deutschland, was kann dir hier finanziell Schlimmes passieren? Jeder, der selbstständig ist, verliert Geld – keine Frage. Aber was kann schlimmstenfalls passieren?“ Dann versuche sie, ein Gegengewicht zu finden: „Was läuft trotz Corona gut im Leben – und wenn es nur heißt, dass man gesund ist.“

Was schon durch eine Berichterstattung der Medien passiere, sei, „dass die Leute Angst haben.“ Lassmann glaubt, dass ein Stück des empfundenen Drucks auch daher komme. „Gerade jetzt in der zweiten Lockdown-Light-Phase kommen so Sätze aus der Politik wie ‚Wir müssen uns auf einen harten Winter einschwören‘ oder ‚Wir müssen zusammenhalten, weil es schwer für uns alle werden wird‘. Warum muss sowas sein?“

Sie würde sich persönlich „mehr Facetten wünschen, die auch eine Perspektive aufzeigen.“ Und von der Politik würde sie sich eine Sicherheit, auch hinsichtlich finanzieller Unterstützung, für die Selbstständigen wünschen. Das würde Ängste nehmen. „Die müssen haarklein angeben, wofür das Geld verwendet wird und in der Steuerklärung aufführen – und es hieß zunächst, das Geld geht eins zu eins an sie. Das ist eine Sauerei“, findet die 48-Jährige.

Viele empfänden auch ein Ohnmachtsgefühl. „Aber man kann steuern, wie man über eine Situation denkt. Das nimmt schon ganz viel Stress raus. Ich muss mich nicht jeden Morgen aufregen, wenn ich Nachrichten anhöre. Das kann ich auch lassen. Ich spare einfach meine Energie und setze sie für konstruktive und positive Dinge ein.“

„Wie schaffe ich es, mit mir alleine zu sein?“

Eine zweite wichtige Gruppe seien die vielen älteren Klient*innen, die regelmäßig bei ihr sind. „Da ist es halt das Schreckgespenst: Ich darf die Enkel nicht mehr sehen, die Kinder kommen mich nicht mehr besuchen. Der Seniorenkaffee fällt aus, Einkaufen macht keinen Spaß, weil das Schwätzchen da wegfällt.“ Und es gibt keine kulturellen Veranstaltungen.

„Das macht gerade den Älteren sehr zu schaffen.“ Denn all das lege auch andere Themen offen: „Wie schaffe ich es, mit mir alleine zu sein? Wie halte ich das aus? Wie fülle ich meine Zeit?“ Wenn jemand Mitte 70 mit vielleicht verstorbenem Partner und einer weit entfernten Familie lebt, „dann ist das ein echtes Brett“, sagt Lassmann. „Da gibt es zum einen eine Trauer, die vielleicht noch nicht aufgearbeitet ist und durch Ablenkung unterdrückt wurde. Die fehlt aber jetzt, also ploppt das wieder hoch.“ Dazu komme das Bewusstsein „Ich bin alt“ und man falle in der Zeit durch das soziale Raster. Lassmann bezeichnet das als „erzwungenen Bewusstseinsprozess.“

Da könne sie nur schauen, welche Ressourcen noch da sind und auf welche Kraftquellen man Zugriff hat. Oftmals bleibe da einfach nur, zuzuhören und echtes Interesse zu zeigen. Die Herzlichkeit, die Wärme – das fehle gerade den Älteren sehr. „Wir transportieren ja ganz viel, wenn wir uns in den Arm nehmen“, sagt die Therapeutin.

Das gelte auch auf biochemischer Ebene. „Das Hormon Oxycotin sowie die Botenstoffe Serotonin und Dopamin werden bei positiven zwischenmenschlichen Kontakten im Körpersystem produziert und ausgeschüttet. Diese ganzen hormonellen Geschichten, die das Wohlbefinden nachgewiesenermaßen stärken, laufen dann nicht mehr so.“ Auch das habe bei fehlenden Botenstoffen und Glückshormonen Auswirkungen auf die Psyche.

Sie selbst habe das noch nicht erlebt, aber die Fachpresse spreche auch über das Thema ‚Gefahr von Suizid bei älteren Menschen‘. „Vor allem bei Menschen, die im Hospiz oder im Altenheim sind, die einfach nicht mehr wollen, nicht wochenlang allein in ihrem Zimmer vor sich hin vegetieren.“ Darüber unterhalte sie sich mit Kollegen.

Für sie ist das „Psychoterror“, denn „da tut man den Menschen psychische Gewalt an“, sagt sie. „Wer darf sich denn anmaßen, für diese Menschen zu entscheiden, dass sie sich einer potenziellen Gefahr nicht aussetzen dürfen? Man nimmt ihnen das Wahlrecht zu sagen, ich setze mich der Gefahr aus, mich mit Corona anzustecken. Ich bin Herr meiner Sinne, ich kann das entscheiden.“

Da brauche es ihrer Meinung nach eine neue Debatte. „Wir dürfen nicht hinnehmen, dass pauschal entschieden wird.“ Man müsse sich Gedanken machen, diese Menschen zu schützen, ohne sie zu kasernieren. Den Leuten die Eigenverantwortung zu lassen, sie nicht zu „entmündigen“ – das kippe in der Debatte hintenüber, sagt Lassmann.

Eine Lösung hat sie dafür auch nicht, gesteht sie. Besuchsräume mit Trennscheibe seien auch nur ein schwacher Notbehelf, wenn „die Umarmung mit dem Sohn fehlt, den man fünf Wochen lang nicht gesehen hat.“ Gerade in solchen Einrichtungen würde sie sich wünschen, dass die Leitungen mehr Spielraum bekommen, wenn Bewohner mal rausgehen wollen – „dass man im Gespräch herausfindet, wie die Gemengenlage ist. Wie sehen die Beteiligten das? Sind sie bereit, das Risiko zu tragen?“ Da brauche es „den Mut, Dinge zu entscheiden mit Blick auf die Menschlichkeit“, sagt die Therapeutin. „Was hilft es einem, in einem Jahr sagen zu können, wir haben die Pandemie im Griff, aber wir haben alle einen an der Klatsche?“

Diejenigen ihrer Klient*innen, die ohnehin schon wenig soziale Kontakte haben, entwickelten Ängste. „Und sie gehen auch ein Stück in die Lethargie. Da muss man als Gesprächstherapeutin auch ein Stück abklopfen, ob es da eine Suizidgefährdung gibt. Das ist manchmal diffus und kriegt man so nicht zu packen.“ Da komme ihr ihre Intuition zugute. „Wenn ich das Gefühl habe, dass es in die Richtung geht, schicke ich die Person in die Schulmedizin.“

Leichtfertiger Umgang mit Psychopharmaka?

Was zugenommen habe, sei das Thema der generellen Versorgung mit Psychopharmaka – „dass Leute das bei einem Arztbesuch untergejubelt bekommen nach dem Motto: Es ist ja auch eine schwere Zeit und es ist alles schwer. Vielleicht wollen sie mit einem Stimmungsaufheller da mal arbeiten“, erläutert Lassmann ihren Eindruck. Tatsächlich schilderten die Menschen, „dass es ihnen psychisch nicht gut geht und berichten mir, dass sie sehr freizügig Angebote bekommen, um Schlafmittel und Psychopharmaka auszuprobieren. Und wenn ich frage ‚Wurden denn keine anderen Möglichkeiten diskutiert?‘, hieß es: Es ist ja keine Zeit.“ In Corona-Zeiten würden die Leute dort noch schneller durchgeschleust, ist ihre Wahrnehmung.

Die großen Auswirkungen von Corona werde man zeitverzögert sehen, da ist sie sich sicher. „Da wird eine Welle an psychischen Erkrankungen auf uns zurollen, die sicher in der Corona-Zeit entstanden sind.“ Um diese Fragen werde sich zu wenig gekümmert, meint Lassmann. „Ich weiß, dass die staatlich zugelassenen Kollegen völlig überlaufen sind. Da kriegen Sie keine Termine. Und den Luxus kann sich privat in Corona-Zeiten nicht jeder leisten.“

Bei ihr seien die Terminbuchungen im Zuge des zweiten Lockdown-light rückläufig. „Ich würde gerne kommen, aber es ist gerade finanziell ein bisschen eng“, höre sie da.
Was Lassmann generell umtreibt, ist „die Aggressivität, die latent zu fühlen ist“ – nicht bei ihren Klienten, sondern draußen vor der Praxistür. Was sie sich wünschen würde? „Dass wir alle uns mit ein bisschen mehr Freundlichkeit begegnen. Das würde die Situation erträglicher und letztendlich die Welt besser machen.“