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Vor 40 Jahren schrieb Martin Willing seinen ersten Artikel fürs Kevelaerer Blatt

Vor genau 40 Jahren bekam das Wohnzimmer von Zeitungsverlegerin Maria Köster an der Hauptstraße 55 bis 57 in Kevelaer eine neue Bestimmung. Wo die alte Dame bis dahin Kaffee getrunken hatte, klapperten nicht mehr Tassen, sondern ratterten die Tasten mechanischer Schreibmaschinen. Sie führten mit dem alten Heidelberger Zylinder und dem Tiegel im hinteren Gebäudeteil fast täglich eine viele Stunden währende Drucker-Symphonie auf.

Der damals 102 Jahre alte Betrieb, davon 100 Jahre im Familienbesitz der Kösters, hatte den Eigentümer gewechselt. Und wir – Martin Willing und ich – schickten uns an, das Hauptprodukt dieses Betriebs, das Kävels Bläche, in eine neue journalistische Zeit zu führen.

An unserer Seite waren unter anderem die freien Mitarbeiter Wilhelm Suckow, Jean Eich und Heinz Knops sowie Roland Wynhoff in der Druckerei, der die alten Maschinen mit ihrem meditativen Sound im Schlaf bediente. Er wusste all ihre Mucken und Macken zu heilen. Ich liebte die Geräuschkulisse. So kündete der Heidelberger Zylinder jedes frisch gedruckte Blatt mit einem satten Atem an: Buff, pfff, buff, pfff…

Martin Willing mit KB.

Maria Köster freute sich, dass alles weiterging. Ihr Sohn Dr. Hans-Peter Köster hatte sie überzeugt, dass das Blatt ohne Neuausrichtung keine Chance haben würde. Mitte der 1970er-Jahre hatten die ersten kostenlos verteilten Anzeigenblätter den Markt aufgemischt. Das KB, die älteste Zeitung weit und breit, war weder personell noch konzeptionell vorbereitet und bangte um seine Existenz.

Einen Kaufinteressenten kannte Hans-Peter Köster bereits, den Kommunalpolitiker Jörg Grahl aus Geldern. Sie wurden vertragseinig. Am 25. Februar 1981 gründeten Grahl, Werner Wins und Martin Willing zu gleichen Anteilen eine GmbH, die fortan das Kevelaerer Blatt herausgab. Wichtigster Aktivposten war der Zeitungstitel mit dem Abonnentenstamm. Grahl und Willing waren die geschäftsführenden Gesellschafter, Grahl zuständig für den kaufmännischen und Willing für den journalistischen Bereich.

Maria Köster überließ den Neuen das Erdgeschoss an der Hauptstraße in Kevelaer, quartierte sich im Obergeschoss ein und steckte immer wieder ihre Nase durch jene Tür, die jetzt zur Redaktion gehörte. Jeden Abend versicherte sie sich, dass der Laden abgeschlossen war, und sagte süß lächelnd denselben Satz: „Ich will ja nicht, dass ich, alte Frau, noch geklaut werde.“

Personendiebstahl wurde nie zu einer Gefahr. Die Probleme lagen woanders. Der Maschinenpark war herrlich und herrlich museumsreif. Die Arbeit ging viel zu langsam vonstatten. Die Manuskripte der Redaktion mussten auf der Bleisetzmaschine ein weiteres Mal „getippt“ und auf Zeilenmaß getrieben werden. Die Überschriften reihte der Setzer von Hand Buchstabe für Buchstabe spiegelbildlich und über Kopf aus dem Setzkasten auf einen Winkelhaken und passte sie wie den Maschinensatz in einen Seitenrahmen ein. Ein Puzzle für Meditationskünstler – Roland Wynhoff war einer! Er blieb uns lange treu und kümmerte sich um den Druck von Plakaten, Geschäftspapieren und Kleinakzidenzen.

In Blei gegossen werden musste auch der allererste Text, den Martin vor genau 40 Jahren für das Kävels Bläche schrieb. Da hatten er und ich unseren Premieren-Termin für das KB gerade erlebt. Dabei war die Verlagsgründung noch nicht vollzogen. Sie stand wenige Tage später an. Doch einer hatte nicht warten wollen. Artur Elders-Boll, Rendant der St.-Urbanus-Gemeinde Winnekendonk und immer mit einem Ohr am Puls der Zeit, hatte läuten gehört, dass wir das Köster-Blatt zu einer Profi-Zeitung entwickeln wollten. Prompt lud er uns zur Einweihung des neuen Pfarrheims ein.

Wir machten dieses große Fest für die Ortschaft Winnekendonk zu unserer allerersten Titel-Geschichte. Sie erschien am Samstag, 21. Februar 1981, unter der Überschrift „Im Glauben begegnen“. Das Aufmacher-Foto hat historischen Wert. Diözesanbischof Dr. Reinhard Lettmann steht mit einladender Geste vor den Gästen.

Maria Köster 1981

In der ersten Reihe sitzen, wie damals und mitunter heute selbstverständlich, ausschließlich Männer – Ortsvorsteher Hansgerd Kronenberg, Kämmerer Heinz Paal, Stadtdirektor Dr. Karl-Heinz Röser, stellvertretender Bürgermeister Theo Bogers, Pastor Jacob Kalscheur und Landrat Hans Pickers.

Unterhalb der Überschrift steht: „Von unserem Redakteur Martin Willing“. Er war zurück. Wenige Monate zuvor, am 17. November 1980, war Martin, hoch angesehener Lokalchef der Rheinischen Post in Geldern, nach einem bundesweiten Journalistenstreik der Gewerkschaften fristlos von der Verlagsleitung entlassen worden. Ich hatte, als damals jüngste Redakteurin der RP, wenige Tage später aus Protest gekündigt. Der Deutsche Journalistenverband wetterte gegen die Missachtung der Inneren Pressearbeit; Leserinnen, Leser und Mitglieder aller Parteien liefen einmütig in einer Demonstration mit Transparenten und Plakaten mitten durch Geldern Sturm gegen die Entlassung von Martin; Fernseh- und Radiosender berichteten.

„Lügenpresse“ war ein noch unbekanntes Wort. Das, was Martin unter seinem Kürzel Mr. W. bis dahin veröffentlicht hatte, war vor allem glaubwürdig gewesen und hatte für Qualitätsjournalismus gestanden. Doch das spielte keine Rolle mehr. Die Verlagsleitung nahm die Turbulenzen in ihrer Leserschaft in Kauf. Martin und ich waren draußen. Wir bewarben uns bei anderen Zeitungen – vergebens. Ein befreundeter Redaktionsleiter vertraute uns an, es kursiere unter Verlagen ein „schwarzer Brief“, der vor den „Revoluzzern“ aus Geldern warnte. Der Mann sagte: „Ihr habt keine Chance!“

Wir hielten uns mit kleinen Jobs über Wasser; ich kellnerte; die Verzweiflung wuchs. Doch plötzlich waren Menschen an unserer Seite. Oberkreisdirektor Dr. Hans-Wilhelm Schneider bot Martin eine Stelle als Kreis-Pressesprecher an. SPD-Urgestein Helmut Esters besorgte mir ein Studien-Stipendium. Wir waren zutiefst dankbar für Solidarität und Perspektiven.
Doch dann bekam Martin ein anderes Angebot, das er nicht ausschlagen konnte. Es deckte sich mit Martins eigenen Plänen.

Natürlich kannte er aus seiner RP-Zeit das KB, das den wenig klangvollen Namen „Aus Kevelaer und Umgebung“ trug. Martins Idee: Er wollte seine eigene Redaktion gründen und das KB übernehmen. Am Silvestertag 1980 wappnete er sich mit Entschlossenheit, lud sich bei Maria Köster ein, unterbreitete seine auch finanziell tragfähigen Pläne – und musste am Ende ohne Ergebnis abziehen. Kein Interesse! Später erfuhr er, dass Maria Köster sein Angebot nicht ernst genommen hatte.

Mehr Glück widerfuhr Jörg Grahl. Er verhandelte unabhängig von Martin mit Köster-Sohn Hans-Peter, der das KB den Bach hinuntergehen sah und seine betagte Mutter entlastet und versorgt wissen wollte. Grahls Beweggrund für den Kaufwunsch: Er war auf der Suche nach journalistischen Alternativen zur einzigen Tageszeitung im Südkreis. Einen Wunschkandidaten für die Redaktion hatte er auch, den geschassten RP-Lokalchef. Die beiden kannten sich aus dem kommunalpolitischen Geschehen und mehr noch vom Segelsport, der beide begeisterte.

Anfang Februar 1981 rief Grahl den Journalisten an und fragte, ob er in den KB-Verlag einsteigen wolle. Und wie er wollte! Martin sagte Hans-Wilhelm Schneider ab und warf sich ins Zeug. Draußen gewesen war er also nur für kurze Zeit. Ich schmiss mein Germanistik- und Philosophiestudium, das ich kaum begonnen hatte, und stieß zur KB-Redaktion. So tauchten wir für 27 Jahre tief ins Kevelaerer Geschehen ein. Nach einigen Jahren hatten wir gemeinsam mit unserem starken Team die Auflage vervierfacht und eine Haushaltsabdeckung von fast 50 Prozent erreicht. Traumzahlen für ein Verkaufsblatt!

Schon ab der ersten Märzausgabe 1981 wechselten wir von den Maschinen, die fast noch druckten wie zu Gutenbergs Zeiten, in einen Fremdbetrieb in Emmerich. Er haute in „Lichtgeschwindigkeit“ per Offsetdruck die KB-Auflage heraus und gehörte keinesfalls zufällig KB-Mitgesellschafter Werner Wins.

Uns blieb für den Quantensprung vom Mittelalter in die Moderne und von Adler-Schreibmaschinen zu unseren ersten Computern eine Einarbeitungszeit von drei Tagen. Natürlich bezahlten wir bei der Premiere Lehrgeld: Als ich bis tief in die Nacht einen aufwendigen Text geschrieben hatte und der Bildschirm nach kurzer Pause plötzlich schwarz war, vermuteten wir einen Defekt in der Stromzufuhr. Wir zogen den Stecker und drückten ihn wieder hinein.

So lernten wir schmerzlich kennen, dass Computer mit Bildschirmschonern ausgestattet sind. Sie schalten irgendwann auf Standby und lassen nur dann komplette Arbeiten im Nirwana verschwinden, wenn man den Rechnern den Saft abdreht…

Die monstergroßen Apparate waren vor allem wegen der herunterkühlenden Gebläse derart laut, dass wir die Redaktion zweiteilen mussten. Wer Dienst am Computer schob, verzog sich in den Getöse-Raum, ein gläserner Kasten, der schon damals alle Anforderungen für Distanz-Arbeiten in Corona-Zeiten erfüllte.

Riesencomputer im KB-Getöse-Raum, 1981 bedient von Delia Evers.

Die Festplatte bot 64 MB Speicherkapazität. Sie würde heute nicht einmal für zehn hochauflösende Fotos reichen. Später lernten wir das System, das noch ganz ohne 1:1-Bildschirmdarstellung auskam, immer besser kennen. Martin gelang über einen mathematischen Trick zur Überraschung der Weltfirma Compugraphic der nicht für möglich gehaltene Ganzseitenumbruch, lange bevor er Standard wurde.

Die Redaktion entwickelte sich prächtig, das Geschäftliche nicht. Die Ausgaben waren viel zu hoch. Martin bot Grahl und Wins Ende 1981 an, ihnen die Anteile auszuzahlen. Sie nahmen dankbar an und schieden aus. Die aufgelaufenen Schulden hatte Martin allein am Hals. Dafür war er frei. Das KB wechselte zur Druckerei Keuck in Straelen. Wir investierten in Belichter und Repro-Kamera, um Fremdkosten zu sparen, und luden uns damit weitere Arbeit auf. Ich stieg als Gesellschafterin ein und übernahm wenige Jahre später Redaktionsleitung und Geschäftsführung – bis zum Verkauf des KB 2008.

Dazwischen lagen 27 Jahre mit einem Kraftaufwand, der oft die Latte zur Selbstausbeutung riss. Manchmal produzierten wir rote und manchmal schwarze Zahlen. Unsere kleine Zeitung, dieser Anachronismus im deutschen Blätterwald, war immer eine Grenzgängerin, die sich knapp über Wasser hielt – auch dank der Sparkasse, die flexibel auf unseren Weg vertraute und nicht enttäuscht wurde.

Unsere redaktionelle Arbeit bescherte uns viel routiniertes Tun und immer wieder investigativen Journalismus, der Missstände auftat und uns juristische Auseinandersetzungen eintrug. Manchmal war allein der Streitwert so hoch, dass er im Fall einer Niederlage alles gesprengt hätte, was uns an Mitteln zur Verfügung stand. Keine einzige Auseinandersetzung haben wir verloren, auch dank des Deutschen Journalistenverbands, der das aufmüpfige Blatt aus Kevelaer regelrecht „lieb hatte“ und uns seine Presserechts-Profis an die Seite stellte.

Die nützten freilich nichts, als die Stadt Kevelaer drohte, uns den größten Anzeigenauftrag streitig zu machen, den der uralte Kulturträger namens Kävels Bläche so dringend brauchte: die Amtlichen Bekanntmachungen. Die unverhohlene Forderung von Verwaltung und Teilen der Politik: Wir sollten wohlgefälliger schreiben, sonst wären wir den Auftrag los.

Wir zögerten nicht. Wir parierten die Drohung – und kündigten der Stadt das Recht, die Amtlichen im KB zu veröffentlichen. So bewahrten wir unsere Unabhängigkeit. Das Wasser stand uns nun erst Recht bis zum Hals. Wir paddelten weiter, die Köpfe obenauf.
Was mich über die Jahre immer wieder verblüffte: dass Kevelaer weder im Weltlichen noch im Kirchlichen die saubere Stadt war, die viele in ihr sahen oder sehen mochten. Hier spiegelte sich im Kleinen wider, was uns an Skandalen aus der weiten Welt bekannt war.

Und doch blieb Kevelaer für Martin und mich auch der immer tief berührende Gnadenort, der mitten im Gewöhnlichen Menschen inspirierte. Kevelaer blieb die Stadt kultureller Buntheit mit Künstlern und Kunsthandwerkern, die Stadt geschäftlicher und gesellschaftlicher Vielfalt – und die Stadt des politischen Muts und der Zivilcourage. Menschen waren es, die uns reich machten.

Martin sagte einmal: „Wenn ich gewusst hätte, dass das KB über 27 Jahre mein Leben bestimmen würde, ohne Zeit zum Malen, ohne Zeit zum Musizieren, ohne Zeit zum Schreiben von Romanen, dann hätte ich es… trotzdem gemacht.“