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Er übersah das Kind

Im Prozess gegen einen 86-jährigen Unternehmer aus Weeze ist das Verfahren gegen eine Zahlung von 12.000 Euro an die Staatskasse (bis zur Zahlung der Summe vorläufig) eingestellt worden. Nach einer kurzen Prozesspause erklärte sich der Angeklagte zur Zahlung der Summe bereit. Daraufhin stimmte die Staatsanwaltschaft zu, der Richter verkündete dementsprechend das Urteil. Das Gericht sah weder eine Absicht des Mannes bei dem Unfall und erkannte auch keine Probleme hinsichtlich der Fahrtüchtigkeit des Mannes an. Strittig blieb bis zum Schluss, ob der Mann das Kind eventuell doch hätte sehen können und der Unfall vermeidbar gewesen wäre. Der Richter glaubte dem Angeklagten, dass er das Kind nicht gesehen hat.

Am Prozesstag stand die Aussage des Vaters des Kindes im Mittelpunkt. Der 38-jährige Kevelaerer schilderte plastisch, wie er und seine Tochter vom Einkaufen kamen, in die Marienstraße in Gegenfahrtrichtung „im Schritttempo“ fuhren. Er selbst sei durch eine Beschädigung an der Hose dann kurz abgelenkt gewesen, weswegen er nicht gesehen habe, wie der Mercedes des Angeklagten aus der Bonifatiusstraße herausgefahren sei. „Plötzlich schrie meine Tochter wie am Spieß“, berichtete der Vater. Sie sei wohl vor dem Auto „wie angewurzelt stehengeblieben“, sagte er. Ob sie mehr rechts oder links gestanden habe, vermochte er nicht zu sagen. Der Autofahrer sei ganz langsam über seine Tochter hinweg gefahren „wie Papier, das durch den Schredder gezogen wird.“

Er habe Krach gemacht, genauso wie eine Frau in einem Auto, was der Fahrer nicht wahrnahm.Daraufhin sei er vom Rad abgesprungen, um den Wagen herum gelaufen, habe die Tür geöffnet und dem Fahrer gesagt, dass er halten soll. Er habe dann seine Tochter unter dem Auto herausgezogen und selbst zum nahegelegenen Kevelaerer Krankenhaus gebracht. Das Kind habe unter anderem einen Schädelbasisbruch und mehrere Brüche erlitten, legte er diverse Atteste der Duisburger und Moerser Klinik vor, in dem die Tochter behandelt beziehungsweise später nochmal nachuntersucht worden ist. Die Tochter sei am 8. Mai eingeliefert, am 30. Mai schon entlassen worden. Sie habe früh erste eigene Schritte unternehmen und ein paar Tage später auch erstmals wieder Treppen laufen können. In den Untersuchungen danach seien bislang keine weiteren Schäden festgestellt worden.

Günstiger Krankheitsverlauf

„Sie hatte danach aber generell große Angst und Panik vor Autos“, schilderte der Vater. Aber auch das habe sich gebessert. Jetzt fahren sie wieder Laufrad. Allerdings habe sie noch Angst, wenn es an Stichstraßen wie an der Bonifatiusstraße vorbeigehe. Sie habe aber deutlich an Sicherheit im Verkehr gewonnen. Die Ärzte hätten den Krankheitsverlauf als „ungewöhnlich günstig“ eingeordnet, so der Vater. Zivilrechtlich sei der Unfall über die Versicherungen außergerichtlich mit einer Summe von 16.000 Euro Schmerzensgeld abgegolten worden.

Danach versuchten ein Sachverständiger und ein Gutachter der Verteidigung, den Ablauf der Geschehnisse nochmal im Detail nachzuvollziehen. Dabei war der Punkt, wo sich der Wagen beim Aufprall befand, genauso in der Diskussion wie die Geschwindigkeiten der Beteiligten, die Sichtmöglichkeiten und die Blickrichtung des Angeklagten. Die Reaktionsfähigkeit des 86-jährigen Fahrers spielte dabei erstaunlicherweise keine Rolle. Der Sachverständige machte nochmal deutlich, dass das Kind beim Zusammenprall mittig des Wagens stand. Das belegten auch die Spuren am Wagen und die Kratzspuren am Boden. „Mit einer langsamen Annäherung an den Ort, bei Schrittgeschwindigkeit kann man das Kind sehen“, war seine Auffassung.

Der Gegengutachter machte deutlich, dass in jedem durchgerechneten Fall sehr wenig Zeit gewesen wäre, um bei Sicht des Kindes zu reagieren. Es gebe in Bezug auf die Wege der Beteiligten und die Zeit viele denkbare Optionen.

Prozess wegen fahrlässiger Körperverletzung

Am Amtsgericht Geldern muss sich ein 76-jähriger Weezer Kaufmann wegen fahrlässiger Körperverletzung verantworten. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hatte der Mann am 18. Mai 2019 am Mittag mit seinem Mercedes die Bonifatiusstraße in Kevelaer befahren, um nach rechts auf die Marienstraße abzubiegen. Im Einmündungsbereich soll ein zweieinhalbjähriges Kind auf seinen Vater, der hinter dem 76-Jährigen fuhr, gewartet haben. Anschließend sei er mit einer Geschwindigkeit von 7 km/h vorgefahren, habe das „für ihn deutlich sichtbare Kind“ nicht gesehen und es frontal mit seinem Wagen erfasst. Das Kind sei unter das Auto geraten und dabei schwer verletzt worden. Der Angeklagte habe auch das nicht bemerkt und sei weitergefahren. Er sei erst dann zum Stehen gekommen, als der Vater des Kindes die Fahrertür aufgerissen habe. Das Kind erlitt eine lebensgefährliche Kopfverletzung und wurde mehrere Tage auf der Intensivstation eines Krankenhauses behandelt.

Der Angeklagte gab bei seiner Aussage an, er sei nach einer Lieferung die Bonifatiusstraße „mit 15 bis 20 Stundenkilometern bis zu der Stelle, wo man zwangsläufig halten muss“ heruntergefahren. „Ich habe auch gehalten, aber ich bin nur soweit vorgefahren, dass ich die Straße einsehen konnte, nicht den Bürgersteig.“ Da sei eine Mauer bis an die Ecke „und wenn Sie vorfahren, können Sie erst die Straße sehen.“ Er sei dann „wohl mit Schritt rausgefahren“ und habe das Kind „nicht gesehen, absolut gar nicht.“ Er habe nur gehört, daß etwa 20, 30 Meter weiter eine Frau mit Kindern im Wagen gestanden habe, die gehupt habe. „Das habe ich nicht auf mich bezogen“, sagte der Mann. Er sei gut einen Meter weitergefahren. Als der Vater dann die Tür geöffnet habe, „habe ich schon gestanden.“ Er habe angehalten, weil er „das Gefühl hatte, so eine Flasche überfahren zu haben“ und ein Geräusch gehört hatte, dass er „am Hinterrad rechte Seite“ für sich verortete.

Unsichere Aussagen

Der Richter hielt ihm vor, dass er bei der Polizei angegeben hatte, „im Schritttempo auf die Marienstraße gefahren“ zu sein, ohne jemanden gesehen oder bemerkt zu haben und ein Mann plötzlich seine Fahrertür aufgerissen und er sofort gestoppt habe. Das sei eine gänzlich andere Aussage. „Ich weiß nicht genau, was ich bei der Polizei gesagt habe“, bekannte der Mann. „Die Polizei hat nicht gefragt, ob ich was gehört habe“, sagte er anschließend. Es sei „keine Befragung im eigentlichen Sinne“ gewesen.

Er habe später noch zweimal mit dem Vater Kontakt gehabt, der sich bei ihm wegen des Herauszerrens aus dem Auto entschuldigt habe. Bei dem Kind sei nichts mehr zu merken. „Gott sein Dank. Ab dem Moment ist es mir dann leichter gefallen.“ Zu den genauen Verletzungen könne er nichts sagen. Sein Rechtsanwalt gab an, das Kind sei nach seinen Informationen „unfassbar wenig verletzt“ worden. Es habe lebensbedrohlich ausgesehen, aber es habe nur Knochenquetschungen gegeben. Den Vorschlag, die Tochter des Angeklagten dazu zu hören, lehnte der Richter ab, da es sich nur um eine „Zeugin vom Hörensagen“ handelte. Und er trug diverse Aktennotizen vor, nach denen von einer „Kopfverletzung mit akuter Lebensgefahr“ die Rede ist, das Kind ein paar Tage danach aber „auf dem Weg der Besserung“ gewesen sei.

Die 39-jährige Kevelaererin, die mit ihren drei Kindern vor dem „Sportraum“ gehalten und im Wagen geschrien und gehupt hatte, gab an, dass er vorgefahren sei, das Mädchen nicht gesehen, vorne erwischt und mitgeschleift habe. Dann sei es unter dem Auto gelandet, worauf sie direkt den Notruf verständigt habe. Sie sei zum Vater gerannt und habe ihn gebeten, das Kind liegenzulassen. Der habe es aber aufgehoben und ins Krankenhaus gebracht. Entgegen der ersten Aussage gegenüber der Polizei gab sie im Prozess erst an, dass das Kind in Bewegung gewesen sei. Nach dem Vorhalt des Richters meinte sie, sie wolle nichts Falsches sagen, das Ganze sei ein Jahr her. Das könne sie nicht hundertprozentig sagen. Sie habe nur die Fahrbewegung des Autos gesehen. „Er war wirklich nicht schnell.“ Im Anschluss an ihre Aussage kam ein Sachverständiger zu Wort, der das Unfallgeschehen rekonstruiert hatte. Seine These lautete, dass man bei einer Schrittgeschwindigkeit von 7 km/h und einer unterstellten Geschwindigkeit mit dem Laufrad des Mädchens von 2 km/h das Kind hätte wahrnehmen können.

Reaktionszeit

Selbst bei 7 km/h habe eine Reaktionszeit von 1,6 Sekunden bestanden. Und den Spuren nach habe der Anstoß des Kindes im mittleren Vorderbereich des Autos stattgefunden. Dafür sprächen auch die dort gefundenen Haare. Das mitgeschleifte Rad habe vorne mittig und vor allem am Unterboden des Wagens tiefe Kratzspuren verursacht und sei deutlich durch „Rumpeln und Pumpeln“ beim Test hörbar gewesen.

Die Verteidigung bot einen eigenen Gutachter auf, der das Gutachten des Sachverständigen anzweifelte. Er habe keinen Kollisionsort ausgemacht, die Weg-Zeitbedingung sei anders, aufgrund der Größenverhältnisse seien Streifen am Fahrzeug nicht möglich und die Sichtverhältnisse durch das Rechtsabbiegen noch dazu deutlich eingeschränkt. Das Verfahren wird am 6. Juli 2020 um 13 Uhr fortgesetzt. Dann soll auch der Vater des Kindes aussagen, der an diesem Tag nicht anwesend sein konnte.