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Die Zeit des Schweigens ist vorbei

Viele Gläubige, Menschen aus der Zivilgesellschaft, den Vereinen und der Politik waren gekommen, um gemeinsam in einer sehr intensiven Dreiviertelstunde den Opfern von Halle zu gedenken. Die Betroffenheit war bei jedem spürbar. „Wenn einer an Jom Kippur einen Massenmord begehen will und dann zwei Unbeteiligte ermordet“, könne man nicht mehr einfach zur Tagesordnung übergehen, meinte Ulrich Hünerbein-Ahlers. „Das hier ist wahnsinnig wichtig, weil es unheimlich ist, was da vor sich geht.“

Auch Gottfried Mülders, früherer Rendant der Pfarrgemeinde St. Marien, war gekommen. „Weil es mir ein Anliegen ist. Die Welt spielt momentan so verrückt.“ Er wolle ein Zeichen setzen. „Es ist dramatisch, was in unserer zivilisierten Welt möglich ist. Wir müssen unsere Kinder, unsere Enkel aufrütteln, ihnen erklären, was da passiert.“

Gemeinsam führten Gregor Kauling, Karin Dembek und Andreas Poorten durch den Gottesdienst. „Wir haben uns hier zusammengefunden, um gemeinsam zu beten und unserem Gefühl von Entsetzen und Lähmung Ausdruck zu geben“, meinte Kauling zu Beginn.

Keine Tat aus Verblendung

Der Wallfahrtsrektor äußerte sein Erschrecken darüber, „dass sich jüdische Brüder und Schwestern hinter der Tür der Synagoge verstecken“ und um ihr Leben bangen mussten. Angesichts einer solchen Hasstat könne man „nicht von Blindheit“ reden, „denn sie wissen, was sie tun.“ Man lasse sich „den Segen Gottes nicht nehmen – vor aller Trennung in Rasse, Religion, Landeszugehörigkeit sind wir Menschen.“ Auch wenn man das Gefühl habe, „dass sie uns umschwirren, ist das nur ein Strohfeuer, das erlischt, weil die Botschaft der Liebe stärker ist als die des Hasses und des Todes.“

Karin Dembek betete für die Opfer, wurde deutlich in ihren Worten: „Zwei Morde sind geschehen, den Juden galt der Anschlag von Halle – und auch den Geflüchteten in unserem Land. So gewohnt wir den Hass in unserem Land schon sind, erschrecken wir jetzt, da jemand zur Waffe greift, und tut, was andere mehr oder weniger deutlich fordern.“ Sie bat im Gottesgebet: „Gib uns den Mut, dass wir uns überall gegen den Hass stellen, wo er uns begegnet. Dass wir uns trauen, zu widersprechen, wenn Menschenfreundlichkeit verhöhnt und Menschen als minderwertig und nicht zu uns gehörig bezeichnet werden.“

Gewalt beginnt mit dem Wort

Die Gewalt, so Dembek, „beginnt mit dem verächtlichen Wort, und wieder sind Worte in Taten umgesetzt worden.“ Die Gewalt richte sich „nicht das erste Mal gegen jüdische Menschen und Fremde“. Die Tat von Halle „steht in einer langen Kette von Gewalttaten, die antisemitisch und rassistisch geprägt waren.“

Und sie führte weiter aus: „Menschen säen Hass in unserer Gesellschaft. Menschlichkeit wird verächtlich gemacht, Unsagbares wird auf einmal sagbar.“ Es sei „unglaublich und erschreckend, dass jüdische Mitbürger Angst haben müssen, den Gottesdienst in ihren Synagogen zu besuchen, ihre Kinder zur Schule zu schicken, ihre Religionszugehörigkeit in der Öffentlichkeit zu zeigen.“ Und sie meinte weiter: „Ich schäme mich. Der Hass trifft uns alle.“ Antisemitismus sei „Gotteslästerung“ und eine „Sünde gegen den heiligen Geist“, zitierte sie den Theologen Karl Barth.

Aber Betroffenheit allein sei jetzt zu wenig, war ihre klare Botschaft. „Ich schäme mich, aber ich will mich nicht nur schämen. Ich weiß, dass ich aufstehen muss gegen Hass und Gewalt, dass ich reden muss, wenn ich antisemitischen und rassistischen Parolen begegne. Ich darf nicht mehr schweigen.“

Andreas Poorten machte deutlich, dass das „Deckmäntelchen unseres Glaubens“ nicht überdecken könne, „was wir in den letzten Wochen erlebt haben. Die Befürchtungen und Ängste unserer jüdischen Mitbürger sind da.“ Man könnte den Menschen nicht einfach sagen, schaut in euer Gebetbuch und ihr müsst keine Angst haben. „Angst haben sie nicht vor dem Gott, aber vor der Situation wie wir sie in Deutschland entdecken.“

Liebe setzen gegen Hass

Er bezeichnete die Tat als „unfassbar“, machte deutlich, dass daraus weitere Fragen für das Zusammenleben entstehen. „Wie kann es weitergehen? Was können wir tun ?“ Die Politik müsse den größeren Rahmen setzen. „Für den Einzelnen bedeutet das, den anderen zu lieben ohne Vorurteile, sich sehen, begegnen und das Gute tun.“

Viele Menschen nahmen zum Gedenken die Kerzen in der Mitte des Gotteshauses und zündeten sie auf der Plattform vor dem Altar an, auf dem ein Kerzenkreuz aufgebahrt schon brannte – und ein Taizé-Kreuz aufgerichtet stand. Anschließend verlasen die drei Geistlichen einige Bemerkungen, die die Kirchengäste auf ihre jeweiligen Zettel zu der Tat von Halle aufgeschrieben und in das Körbchen geworfen hatten.

„Ich bin geschockt, mir fehlen die Worte“, hieß es da . „Ich bin wütend, ich schäme mich“, lautete ein anderes Zitat. „Frieden für alle“ war die Hoffnung. Und ein anderer bat Gott um Hilfe, „Zivilcourage auszuüben“ und die Menschheit „von der Besessenheit des Rechtsradikalismus und Antisemitismus“ zu befreien. So still wie die Menschen zusammengekommen waren, so still verließen sie auch ohne große Worte das Gotteshaus. Aber klar scheint nach Halle eins: Die Zeit des Schweigens, die ist jetzt vorbei.