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Eine Zirkusfamilie und ihre Existenzangst

Manchmal laufen einem berührende Weihnachtsgeschichten einfach so über den Weg. So erging es mir, als ich mich am vergangenen Freitagnachmittag nochmal auf den Weg machen wollte – und vollkommen unvermittelt ein Mann mit leuchtenden LED-Ballons vor meiner Haustür stand, um sie mir zum Verkauf anzubieten. Der Mann stellte sich mir als René Lutzny, Direktor des Oldenburger „Circus Montana“, vor. „Wir sind zur Zeit am Hoogeweg stationiert. Da wohnt meine Schwiegermutter“, erklärt er, was ihn und seine Lieben an den Niederrhein verschlagen hatte. „Ich bin Zirkusdirektor in der siebten Generation“, die gesamte Großfamilie sei in Sachen Zirkus und Kleinkunst „mit bestimmt acht Zirkussen“ unterwegs. „Meine Großmutter hat 16 Kinder, 36 Enkel und 111 Urenkel“, bringt er mich schlicht zum Staunen und weckt meine Neugier. „Wir sind zu dieser Zeit sonst regelmäßig in Kleve beim Weihnachtszirkus am Hagebaumarkt. Aber wir haben Corona. Das ganze Jahr über haben wir faktisch keinen Cent verdient“, berichtet er. Dass es ihm da nicht angenehm ist, Ballone zum Überleben zu verkaufen, liegt auf der Hand. Spontan lädt er mich zu einem Besuch bei seiner Zirkusfamilie ein. 

Zwei Tage später betrete ich das „Domizil“ der Familie. Mehrere Wohnwagen stehen auf dem Parkplatz des Getränkehandels Jahnke. In dem kleinen Wohnzimmer-Wohnwagen begrüßen mich René Lutzny und seine Frau Sabrina mit den vier Kindern Samantha (19), Chantal (16), Joel (15) und John (12). „Wollen Sie einen Kaffee?“ Das Angebot nehme ich natürlich gerne an.

Beide Familienstränge seien mit Leib und Seele im Zirkus oder mit artverwandten Dingen unterwegs. „Einer meiner Brüder macht eine Puppenbühne, der andere den Zirkus in Nürnberg, einer die Dino-Show – das sind alles Schausteller“, sagt Sabrina Lutzny stolz. Die Kinder verfügen über vielfältige Talente: John zum Beispiel macht die Lichttechnik, gemeinsam mit dem Papa Hand- und Fußakrobatik und Jonglage. „Rola-bola wünsche ich mir – eine Rolle mit einem Brett, auf dem man balancieren muss“, sagt er. Joel praktiziert vor allem gerne Handstände auf Stühlen und Jonglage. Chantal ist gelenkiges Schlangenmädchen, Luftakrobatin, kann Hoola-Hoop und Jonglage. Und Samantha macht ganz viel Luftakrobatik am Netz, am Trapez und Hoola-Hoop.   

Ihre Profession führt die Familie durch halb Europa – in Holland, Österreich, Belgien, Frankreich, sogar in Monaco war der Zirkus schon. „Auch in diesem weltberühmten Zirkus, den man auch im Fernsehen sieht.“ Chantal hat in Monaco als Zeichnerin einen Wettbewerb gewonnen, erhielt von Prinzessin Stéphanie eine Auszeichnung – ein weiteres Talent. Doch alle teilen momentan das gleiche Schicksal. 

Alpakas, Lamas und Ponys

„Der Lockdown macht uns allen zu schaffen“, erzählt die 40-jährige Luftakrobatin Sabrina Lutzny. „Da wir nicht wussten, wohin und wie es weiter geht, haben meine Mama, die hier in Kevelaer wohnt, und ihr Mann ihre Freunde Birgitt und Frank gefragt. Und so haben wir unseren Stellplatz hier bekommen.“ Ihre Esel, Enten, Alpakas, Lamas und Miniponys mussten sie an diversen Orten unterbringen. Erst hatten sie die Hoffnung – wie viele andere Menschen – dass das Ganze nur eine Frage von Wochen sei. „Dann hieß es quasi Lockdown bis 31. Oktober. Dann haben wir wenigstens noch auf unser traditionelles Weihnachtsgeschäft in Kleve gehofft, wo wir in dem Weihnachtszirkus mitwirken.“ Und dann hieß es: Lockdown November, dann Dezember „und dann war es gegessen.“ Denn der Dezember gilt für Schausteller und Veranstalter als das Hauptgeschäft.  

Zwischenzeitlich habe man in Österreich versucht, mitzuwirken. „Da ging es für drei Monate gut – natürlich nicht mit dem ganzen Zirkus – nur ich, René und die vier Kinder“, erzählt Lutzny. Aber da kam dann auch der zweite Lockdown. Dazu kam noch weiteres Pech: „Zwei Lastwagen kaputt, das Auto mit Kardanwelle – das, was man verdient hat, hat man wieder reingesteckt. Und so sind wir mittellos hier wieder gelandet.“ Vom Staat gebe es nur Hartz IV. „Aber wir haben Wohnwagen auf Finanzierung, ein Auto, Reparaturen. Da komme ich mit Hartz IV nicht weit hin.“ Und selbst auf dieses Geld vom Amt warten sie noch. „Es ist noch in Bearbeitung.“ Wenigstens vor Weihnachten soll es kommen. 

René Lutzny beim Ballonverkauf.

Proben sei unter den Umständen auch eine Herausforderung. „Im letzten Jahr durften wir in Kevelaer ins Fitnessstudio kostenlos rein. Da war das toll für uns“, erzählt ihr Mann. Aber auch das macht Corona unmöglich. Sie hoffen gemeinsam auf bessere Zeiten. „Denn das ist kein Beruf, sondern eine Berufung“, sagt Sabrina Lutzny. „Ich liebe es, die Leute zu begeistern. Allein schon dieser Manegenduft, der Standortwechsel, diese Zusammengehörigkeit, das gehört alles mit dazu.“ Das Besondere am Zirkus sei, dass alle Altersklassen vertreten sind. „Wo hat man das? Und egal aus welcher gesellschaftlichen Schicht man kommt, wenn der Clown kommt, lachen alle. Da vergessen sie, wo sie herkommen.“ 

Aber die Aussichten erscheinen auch für 2021 nicht rosig. „Ich habe mit vielen Kollegen gespro-chen, die meinten, vor Anfang Juni wird in Deutschland nichts gehen“, sagt Familienvater René Lutzny. Natürlich verstehen sie die Einschränkungen. „Das betrifft ja die ganze Welt“, meint seine Frau.  Und selbst haben sie ihre Kinder dahingehend erzogen, dass nicht das Materielle, sondern Zufriedenheit und Gesundheit im Vordergrund stehen. 

„Mit Geschenken waren wir nie so. Wir sind immer froh, wenn wir zusammen sind und alles haben, was wir zum Leben brauchen“, sagt Sabrina Lutzny. „Es ist halt diese finanzielle Situation – wir sind alle gesund und verhungern auch nicht. Gott sei Dank haben wir gute Nachbarn, unsere Mama und ihr Mann unterstützen uns.“ Aber eine Lösung auf Dauer ist das nicht.

Die Familie hofft, dass in absehbarer Zeit die Impfungen anschlagen, viele negativ danach getestet werden und dann wieder Veranstaltungen nach und nach stattfinden dürfen. In Österreich könnte es vielleicht damit schon Ende Januar losgehen, haben sie gehört. Mit 150 Leuten unter strengen Hygienebedingungen, damit könne man leben. „Das funktioniert auch“, meint Sabrina Lutzny. Ob das eintreten wird, sie wissen es nicht. Die Existenzangst bleibt – so oder so.