Schlaganfall: „…und danach kommt die Angst“

Am Dienstag, des 15. Juli 2014 kam Karl-Heinz („Kalle“) Baaken (59) vom Spätdienst bei der Deutschen Bundesbahn nach Hause und freute sich auf sein Abendessen. Das wollte er sich an diesem Tag selbst zubereiten, da seine Frau Gabi noch bei ihrer „Krabbelgruppe“ war (eine Gruppe von Müttern, die das regelmäßige Treffen über das Erwachsen werden ihrer Kinder beibehalten haben).
Für den bodenständigen, in Kevelaer wohnenden, Baaken eigentlich ein Abend wie viele andere zuvor auch. Doch es sollte anders kommen. Er erinnert sich besonders gut an diesen Abend, zum einen weil er die Rückkehr der deutschen Weltmeister-Elf aus Brasilien im Fernsehen verfolgen wollte und zum anderen weil ihn „der Schlag“ traf.
Nach dem Verzehren seines Abendessens stand er vom Tisch auf, um das Geschirr in die Küche zu bringen, als er spürte das ihm schwindelig wurde. Sein erster Gedanke war, du bist zu schnell aufgestanden. Wer kennt dieses Gefühl nicht auch, wenn der Kreislauf  mit dem abrupten Aufstehen nicht sofort klar kommt. Doch etwas war anders, denn plötzlich lag er auf dem Boden und ein Arm und auch eine Hand waren verkrampft und ein Bein wollte ihm nicht mehr gehorchen. Nach einger Zeit konnte er sich unter starken Mühen aufstellen und schaute in einen Spiegel. Als er seinen herunterhängenden Mundwinkel und das schiefe Gesicht sah, wollte er laut mit sich selbst reden, allerdings konnte er die Laute, die aus seiner Kehle drangen nicht mehr verstehen. Sofort schoss es ihm der Gedanke durch den Kopf „Scheiße, du hast einen Schlaganfall“.
Irgendwie fiel ihm ein den Notruf zu wählen und es war ihm ganz klar, dass das die 112 ist. Auch, dass er dazu ein Telefon benötigte erschien ihm logisch. So ergriff er das Handy, das in der Nähe lag, doch wusste er nicht mehr was er damit sollte. Er konnte sich einfach nicht mehr erinnern, wie er das Telefon bedienen muss. Einfach weg die Erinnerung.
Hilflos in der Küche
Hilflos und allein ließ er sich in der Küche nieder und legte seinen  Kopf auf die verschränkten Arme auf Küchentisch. Es sind dann wohl 30 Minuten vergangen bis seine Frau nach Hause kam und fragte, „Sag mal Kalle warum sitzt du denn hier im dunkeln? Schläfst du?“ Als sie erkennt, dass ihr Ehemann in großer Not war, packt sie ihn beherzt sofort ins Auto und fuhr zum Kevelaerer Krankenhaus. „Meine Frau ist eine echte Kämpferin, hätte ich sie und die professionelle Ersthilfe im Marienhospital nicht gehabt, wer weiß…
Baaken hatte sehr viel Glück, da ihm schnell geholfen wurde. Auch der Umstand, dass er einen Ruhepuls von nur ca. 50 Schlägen hat (ähnlich wie bei Leistungssportlern), hat vermutlich größere Schäden verhindert. So vermuteten es zumindest seine behandelnden Ärzte. „So ein Schlaganfall ist schon eine komische Sache“, sagt er, „es tut nicht weh und manche Dinge die man vorher aus dem Eff-Eff konnte gehen dann nicht  mehr“. Auf einfache Fragen, die man ihm zur Diagnose im Krankenhaus stellt, fand er keine Antworten. So zeigte man ihm ein Bild, auf dem eine Tomate abgebildet war. Er erkannte zwar den Gegenstand, konnte aber nicht mehr das passende Wort dafür über die Lippen bringen. „Oder“, so führt er weiter aus, „Multiplizieren konnte ich,  nur addieren nicht, auch simpelste Aufgaben, diese Fähigkeit war weg“.
Nach dem Verlassen des Krankenhauses kam das übliche Programm der Nachsorge und Reha, um seine Defizite in den Griff zu bekommen. Die Physiotherapie half ihm die eingeschränkten Bewegungsabläufe wieder herzustellen, mit Logopädie die Sprache zu normalisieren und die Wortfindungsstörungen abzubauen. „Manchmal ist es auch heute, nach drei Jahren, noch so, dass mir einzelne Worte nicht spontan einfallen wollen, aber die Logopädin hat mir Tricks beigebracht, wie ich das umgehen kann bzw. wie ich mich an das fehlende Wort erinnere“, sagt er mit einem Lächeln.
Plötzlich kam die Angst
Er war schon eine ganze Weile aus der Reha zurück aber noch nicht wieder arbeitsfähig. Daher verbrachte er viel Zeit Zuhause. Seine Frau Gabi war ganztägig arbeiten und sein erwachsener Sohn wohnt in einer anderen Stadt. Sein Tagesablauf gab zu viel Raum zum Grübeln und um sich selbst zu beobachten. Und dann war sie plötzlich da, die Angst.
Denn jedes Mal wenn ihn irgendetwas zwickte kreisten seine Gedanken sofort um das, was ihm wiederfahren war und dass das möglicherweise wiedergeschehen kann. Dieses negative Gefühl kam immer häufiger und er steigerte sich derart heftig hinein, dass sein Blutdruck auf 200 hochschnellte. Umgehend wurde er wieder ins Marienhospital eingeliefert und kam erneut auf die Stroke Unit (Spezialstation für Schlaganfallpatienten). Hier konnte man jedoch nichts diagnostizieren, dass auf ein körperliches Defizit hindeutete. Man gab ihm die Empfehlung sich in psychologische Behandlung zu begeben, um seine Ängste abzubauen. Zum Psychologen? Das war ihm dann doch suspekt. „Da war ich doch noch nie. Und was soll ich da“, so schildert er seine ersten Gedanken.
Aber er wollte und musste sich seiner Angst, die sich schon zu einer beginnenden Depression ausweitete, stellen. Es war nicht die Angst vor dem Tod, sondern von jetzt auf gleich nicht mehr gebraucht zu werden und nichts mehr alleine zu können. „Ich hatte riesige Angst ein Pflegefall zu werden. Ich war doch immer der, der geholfen hat. Ob im Beruf bei der Bahn oder sonst im alltäglichen Leben“, sagt er mit ernster Mine.
Also begab er sich zur regelmäßigen psychologischen Behandlung nach Kalkar und in eine erneute Reha nach Füssen.  „Das alles hat mir unglaublich geholfen. Aber die beste Medizin hat mit ein Arzt in Kalkar verabreicht. Dieser fragte mich nach meinen Hobbies und ich erwähnte, dass ich sehr gerne und auch viel lese. Darauf hin meinte der Arzt, dann könne ich doch auch ein Buch schreiben über das, was mich beschäftigt. Denn wer lesen kann, der kann auch schreiben“, erzählt Baaken sehr emotional.
Mit dem Gedanken, tatsächlich ein Buch zu schreiben, setzte er sich intensiv auseinander und kaufte eine Ausgabe „Ein Schnupfen hätte auch gereicht“ von Gabi Köster (Kölner Komikerin, erlitt 2008 einen schweren Schlaganfall), um herauszufinden wie andere das gemacht haben.
Baaken war aber enttäuscht über den Inhalt, da nicht wirklich etwas über ihre Krankheitsgeschichte und ihre Ängste in dem Buch stand. „Das kann ich besser“, war seine Überzeugung. Er setzte sich an seinen PC und fing an drauf los zuschreiben. „Am ersten Tag hatte ich bereits 50 Seiten geschafft“, sagt er voller Begeisterung. Eva Dicks, die er aus der ehrenamtlichen Hilfe kennt –  die beiden geben Deutschkurse für Flüchtlinge im Sporthotel – bestärkte ihn darin und bot ihm Hilfe beim Korrekturlesen an. Sie brachte ihn auch darauf, das Buch im Selbstverlag zu produzieren. (Anm. d. Red. Selbstverlag oder Eigenverlag bezeichnet die Herausgabe eines Buches oder anderer Publikationen durch einen Autor selbst, der damit zum Selbstverleger wird).
Nach rund sechs Monaten des Recherchierens und Schreibens sowie Dank der Unterstützung durch seine Familie war es dann soweit, das Buch war mit 228 Seiten fertiggestellt. Das erste vollständige Exemplar gab er seiner Mutter zur Lektüre. „Nach zwei Tagen war sie fertig und war mächtig stolz auf mich“, sagt er mit leicht wässrigen Augen. „Wenn ich die Endfassung lese, dann hätte ich heute sicherlich 350 Seiten schreiben können. Es fallen mir jeden Tag noch Dinge ein, die erwähnenswert sind“.
„Ich möchte mit diesem Buch auch manchem die Hoffnung geben, dass nach einem Schlaganfall das Leben auch immer noch schön sein kann. In der Reha habe ich viele, jüngere und ältere Menschen kennengelernt, die nicht so viel Glück wie ich gehabt haben. Denen möchte ich Mut machen.” Sein Lebensmoto heute lautet: „Bevor du sagst, das kann ich nicht, versuche es und du wirst sehen, du kannst es. Nach dieser Maxime hatte ich die letzten zwei Jahre nicht gelebt. Jetzt kommt das gute Gefühl wieder und es geht mir gut, auch wenn die Angst nicht vollständig weg ist“.
Er hat Pläne. Er arbeitet wieder bei der Deutschen Bahn, erfüllt aber andere Aufgaben als früher, da er in dem was er zuvor machte nicht zu 100 Prozent einsatzfähig ist.
„Ich gehe wieder gerne zur Arbeit und meine neue Tätigkeit füllt mich aus. Ich werde dann in gut drei Jahren in Rente gehen können und spätestens dann werde ich wieder ein Buch schreiben. Vielleicht wird es eine ergänzende Fassung des jetzigen sein oder etwas gänzlich anderes. Erste Ideen habe ich bereits. Jetzt bin ich erst mal gespannt, wie mein Buch angenommen wird und wie die Reaktionen darauf sein werden. Das Buch ist erschienen unter dem Titel „….und danach kommt die Angst“ und kann als Taschenbuch in jeder Buchhandlung oder auch als eBook erworben werden. Wer Baaken schreiben möchte, der kann ihm eine Nachricht unter baaken@gmx.net zukommen lassen.