Reinkarnation auf Raten

Gotische Kathedralen und große Orgeln haben eines gemeinsam: Sie sind ewige Baustellen und nichtversiegende Nahrungsquellen ihrer Erbauer. Den Zustand „fertig“ gibt es eigentlich nicht. Nicht anders geht es dem Instrument in der Marienbasilika Kevelaer. Da mag es sicher auch eine Rolle spielen, ob so eine Orgel eher ein Schattendasein führt oder derart prominent im Fokus steht, wie es hier der Fall ist. Jedenfalls lässt sich in der Geschichte der Basilika keine Periode von 30 Jahren ausmachen, wo nicht einschneidend die Orgel umgebaut wurde.

Die jüngst abgeschlossenen Arbeiten lassen sich zwei Strängen zuordnen. Der eine ist jener, der der apostrophierten Kathe­drale verpflichtet ist, und besteht aus substanzerhaltenden Maßnahmen, die gewissermaßen rotierend ablaufen. Dieses Mal traf es eine ganz besonders schwergewichtige Abteilung in der Orgel, nämlich das Großpedal. Der Name erklärt sich im Grunde selbst: Es handelt sich um jene Register, die vorrangig Bassfunktion erfüllen und mittels agiler Füße durch den Organisten angespielt werden. Da heißt es alles ausräumen, reinigen, beschädigte Pfeifen oder Teile reparieren und die gesamte Orgeltechnik überarbeiten, die nötig ist, dass die am Spieltisch niedergedrückte Pedaltaste auch zum gewünschten Ton führt. Eine Arbeit, die alle 15 bis 20 Jahre erforderlich und eine normale immer wiederkehrende Maßnahme ist, dem Hausputz nicht unähnlich, nur eben seltener und dafür anstrengender.

Der zweite thematische Strang, der alle Arbeiten an der Basilikaorgel durchzieht, ist der Wiederherstellung des Klangbildes verpflichtet, in dem sich die Orgel ursprünglich 1926 präsentierte. Dass dieses nicht erhalten blieb, hat vielerlei Gründe. Zum einen steht eine Orgel immer im Spannungsfeld, einerseits „Denkmalwert“ zu besitzen, dabei gleichzeitig aber auch schlicht Gebrauchsgegenstand zu sein. Das eine verlangt eine konservierende Bewahrung des Kunstwerks, das andere führt zu Modifikationen des Arbeitsmittels, ganz nach Gusto des Benutzers – im Grunde eine Eitelkeit, die aber auch um das fromme Kevelaer keinen Bogen gemacht hat. Der erste wirklich gravierende Einschnitt erfolgte jedoch in der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als die Basilika für zahlreiche Menschen als Durchgangslager diente. Nicht nur die Ausstattung im unteren Teil der Kirche wurde dabei arg in Mittleidenschaft gezogen, auch das Innere der Orgel war „bewohnt“ und am Ende fast Ruine.

Der Wallfahrt sei Dank, fasste man bereits kurz nach der Währungsreform 1948 den Entschluss, die Orgel, so gut es eben damals ging, wiederherzustellen. Allerdings hatten sich die Zeiten nicht nur durch die Verwüstungen des „Tausendjährigen Reiches“ grundlegend geändert, sondern bereits am Ende der 20er Jahre erfassten Ideen den Orgelbau, die mit der spätromantischen Klangwelt nichts mehr anfangen konnten, in der auch die Basilikaorgel zuhause war. Und so baute man die Orgel dem Zeitgeschmack gemäß verändert wieder auf und ließ auch vieles von dem weg, das nur noch als unnötiger Ballast empfunden wurde. Man mag es als Luxusproblem empfinden, wenn dann 1949 „nur noch“ 110 statt ursprünglich 131 Register zur Verfügung standen; begreift man aber die Orgel als einen in sich stimmigen Organismus, so wird schnell klar, dass bei so weitreichenden Eingriffen nur noch ein Zerrbild des ursprünglich Geschaffenen übrigbleiben konnte.

Orgelbauer Marco Ellmer „thront“ über dem Großpedal.

Nun sind also einige weitere Schritte unternommen worden, um die in der Vergangenheit geschlagenen Wunden zu heilen. Das sind nicht immer Maßnahmen, die einem sofort ins Ohr springen. Aber genau wie in einem Orchester nicht jeder als Solist hervortreten kann, gibt es auch Orgelregister, die ihre Wirkung „im Verborgenen“ entfalten. Ein solches hat nun wieder seinen Platz gefunden und wird fortan im Pedal die Wirkung der ganz besonders tiefen Frequenzen unterstützen.

Sein Name ist Septime 4 4/7‘ und mit so einer technischen Bezeichnung ist es nun wirklich schwer, berühmt zu werden. Wie die Wirkung jener Septime in der Praxis funktioniert, kann man ohnehin nur unzureichend beschreiben und so sei schon hier zu einem Besuch beim Basilikaorganisten Elmar Lehnen animiert, der „seine Königin“ mit großer Begeisterung vorführt – siehe nebenstehenden Kasten.

Viel schwerer wiegt allerdings die Komplettierung des Contrabass 32‘ und das ganz im wahrsten Sinne des Wortes. Schon immer fehlten der Orgel die ersten fünf Pfeifen dieses in jeder Hinsicht riesenhaften Registers, womit sie nun, in sich betrachtet, um einen weiteren Rekord reicher ist. Der großzügigen Spende von Georg Bors ist es zu verdanken, dass diese fünf Pfeifen nun in die Orgel eingebaut werden konnten. Und er wird „seine“ Töne nicht nur hören, sondern auch spüren können. Das große C, nun mit knapp zehn Metern die längste Pfeife im Inneren der Orgel, erzeugt einen Ton mit der Frequenz von 16 Hertz und dieses abgrundtiefe Beben erreicht uns Menschen zwar gerade noch über die Ohren, aber vielmehr über den Bauch. Für die Orgelbauer der Firma Seifert ist der Umgang mit so „dicken Pötten“ auch immer wieder etwas Besonderes, fordern sie doch Mensch und Maschine bei ihrem Bau und der anschließenden Montage einiges ab. Diese Begeisterung am Besonderen verspürt man dann auch deutlich, wenn man den Worten Marco Ellmers folgt, der für die klangliche Ausführung der Arbeiten verantwortlich zeichnet. Aufgrund ihrer Größe gelangten die Pfeifen zerlegt in Segmente in die Orgel und wurden dort an Ort und Stelle wieder zusammengefügt – hoffentlich für die Ewigkeit.

Aber was ist nun das Faszinierende an der Orgel in der Marienbasilika? Kennern der Materie fällt die Antwort auf diese Frage nicht schwer und irgendwann ist dann die Rede vom typischen „Kevelaer-Sound“, der denn auch tatsächlich ‚unverwechselbar‘ ist. Die dynamisch lückenlose Spannweite vom kaum vernehmbaren Pianissimo bis zum markerschütternden Tutti und die schiere Unendlichkeit der dazwischen liegenden farblichen Schattierungen ist sicher eines, was diese Orgel einmalig macht. Aber eigentlich jeder, der sich sinnlich dem Gesamtkunstwerk „Marienbasilika“ nicht verweigert, wird von dieser Mischung aus Raumwirkung, Weihrauch und mal zartem, mal heroischem Orgelklang berührt werden und dieses Erlebnis in sich verwahren.

Dank der in diesem Jahr erfolgten Arbeiten und den vorangegangenen Etappen ist die Orgel auch inzwischen beinahe wieder dort angekommen, wo alles an seinem rechten Platz und der Organismus wieder in Gänze lebensfähig ist. Ganz ist die Wiedergeburt dieses Monuments spätromantischer Orgelbaukunst noch nicht abgeschlossen, aber ein Lichtschein am Ende des Tunnels wird sichtbar.

Orgelbau-Filiale am Ort

‚Unverwechselbar‘ und einmalig ist auch die Verknüpfung einer Orgel mit einem am Ort ansässigen Orgelbaubetrieb, wie dieses in Kevelaer der Fall ist, war es doch für den 1907 abgeschlossenen Bau der Orgel Bedingung, eine Filiale am Ort zu eröffnen. Die Großen und Berühmten der Branche wie Sauer aus Frankfurt/Oder und Walcker aus Ludwigsburg winkten ob dieser abenteuerlich anmutenden Auflage ab. Ernst Seifert aus Köln – innovativer Orgelbauer und guter Geschäftsmann gleichermaßen – ergriff die Chance, seinen aufstrebenden Betrieb nach vorn zu bringen. War Kevelaer anfänglich nur eine Außenstelle des Kölner Betriebes, ist dieser nun einziger Sitz des in fünfter Generation geführten Familienunternehmens. ‚Orgelbau und Orgelmusik‘ sind im Dezember letzten Jahres durch die UNESCO in die internationale Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen worden. Nur an wenigen Orten lässt sich dieses Welterbe in einer Symbiose aus Instrument, Orgelbau und Orgelmusik derart lebendig erleben wie in Kevelaer.

Im Oktober 1777 schreibt Wolfgang Amadeus Mozart in einem Brief an seinen Vater: „…die Orgel ist doch in meinen Augen und Ohren der König aller Instrumenten.“ Noch etwas pointierter bringt es der französische Komponist und Theoretiker Hector Berlioz gut einhundert Jahre später auf den Punkt, wenn er Orgel und Orchester vergleicht: „Beide, Orgel sowohl wie Orchester, sind Könige oder vielmehr das Eine ist König, die Andere Papst“. Auch wenn der Titel „Papst-Orgel“ schon verbrannt ist, wäre eine Einordnung der Kevelaerer Orgel durchaus angemessen. Immerhin ist sie die größte noch erhaltene­
deutsch-romantische Orgel überhaupt.

Vorführungen mit Elmar Lehnen

Tausend Worte genügen nicht, um das Erlebnis Basilikaorgel lebendig werden zu lassen – in einer Vorführung mit dem Basilikaorganisten Elmar Lehnen geschieht das mühelos. Telefon: 02832/978542 oder E-Mail: organist_lehnen@web.de

Der Orgelbauverein Kevelaer freut sich über jeden Interessenten und Förderer, ohne dessen Engagement die Erhaltung des bedeutenden Instruments nicht möglich ist. Info-Flyer liegen jederzeit in der Basilika aus.