Orgelkonzert zum Abschluss der Wallfahrt

Einen fulminanten Abschluss fand am Nachmittag des Allerheiligentages jene Orgelkonzertreihe, die in gewohntem Rhythmus die Wallfahrtszeit durchzieht. Alessandro Bianchi hatte den Weg aus dem Norden Italiens nach Kevelaer auf sich genommen – die majestätische Basilikaorgel ist eine solche Reise allemal wert. Gut 50 Freunde der Orgelmusik hatten den Weg in die Basilika angetreten und sich nicht vom trüb-nassen Novemberwetter verschrecken lassen.

Das Programm hielt häufiger zu hörende Werke wie das Finale aus Louis Viernes dritter Sinfonie bereit, vor allem aber auch Kompositionen, die seltener zur Aufführung kommen. Zur Eröffnung gab es mit Joseph Bonnets „Variations de concert“ gleich einen richtigen Brocken – spieltechnisch markierte Bianchi bereits an dieser Stelle, dass er ein Freund der weit oben hängenden Trauben ist.

Ähnlich wie der weitaus bekanntere Marcel Dupré zählte Bonnet zu jenen französischen Orgelvirtuosen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die ein heute geradezu unglaublich erscheinendes Reise- und Konzertpensum in Europa und Amerika absolvierten. In diesen Zusammenhang fallen gewiss auch die gespielten Variationen, die in erster Linie der Demonstration der technischen Meisterschaft des Organisten dienen sollen, über die Bonnet zweifelsohne verfügte – ob gleiches für ihn als Komponisten gilt, ist Geschmackssache. Darüber musste sich Bianchi allerdings keine Sorgen machen und konnte sich dank seiner überragenden Technik ganz dem Musizieren im besten Sinne widmen.

In die Reihe der vielreisenden Orgelvirtuosen ist auch Bianchis Landsmann Marco Enrico Bossi (1861­–1925) zu rechnen, der zu seinen Lebzeiten hohe Popularität genoss. Immerhin zählte er zu den Musikern, die sich mit ihrer Musik selbst auf den berühmten Welte-Notenrollen verewigen durften, die als frühe Speichermedien in den selbstspielenden „Welte-Philharmonie-Orgeln“ zum Einsatz kamen – auch das durch Bianchi dargebotene „Erhöre mein Flehen“ rechnet dazu. Solche Musikautomaten fanden sich in Haushalten der Oberschicht ebenso wie auf Ozeanriesen, etwa der Titanic. Letztere versank nur aufgrund einer Lieferverzögerung ohne Orgel und in diesem Zusammenhang nicht ohne Ironie: Bossi kam auf einer Atlantikpassage ums Leben.

Einer ganz so ‚lebendigen‘ Ausgestaltung des Motivs „nahendes Lebensende“ hätte es im Grunde gar nicht bedurft, wie sie in der Basilika zur Aufführung kam – der hervorragend spielende Bianchi war daran weitgehend unschuldig. Aber die Melange aus leidender Vox coelestis, himmelschreiend verstimmtem Gedackt, unharmonischen Röhrenglocken und dazwischenfiependem Hörgerät eines Konzertbesuchers stellte all jene auf eine äußerst harte Probe, die dem Umstand definierter und aufeinander bezogener Tonhöhe zumindest einen gewissen Restwert beimessen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses innige Flehen erhört wurde – selbst, wenn es nur eines um Nachstimmung der Gedackten (und Mixturen) war.

Den Mittelblock bildeten zwei Franzosen, deren sehr spezielle Beziehung zueinander reichlich Stoff für Geschichten und Anekdoten geliefert hat – Louis Vierne und Marcel Dupré. Zählt das bereits erwähnte Finale aus Viernes „Dritter“ zu den Orgelhits, ist die Transkription „Zephyrs“ von Dupré nur selten zu hören, geht sie doch auf eine Improvisation des Meisters zurück, die später verschriftlicht, von ihm aber nie autorisiert wurde.

Beide Werke trug Bianchi gleichermaßen packend und souverän vor und verstand es dabei, die frankophonen Facetten der Basilikaorgel gekonnt zur Geltung zu bringen. Der ästhetische Wert, eine „Augenblicksmusik“ zu verschriftlichen und anschließend in völlig anderer Situation „nachzuspielen“, blieb aber auch nach dieser Aufführung fraglich.

Hatte Bianchi bis hierhin schon ein eindrucksvolles Zeugnis seines Könnens abgelegt, wartete der wahre Titan erst noch auf Organist und Zuhörer. Franz Liszts „Fantasie und Fuge über den Choral ‚Ad nos, ad salutarem undam‘“ ist mit knapp einer halben Stunde Spielzeit der mächtigste unter den drei epochemachenden Monolithen, die der ‚Abbé‘ der Orgelwelt hinterließ.

Das thematische Material für diese entgegen dem Titel eigentlich dreiteilig angelegte Komposition entnahm Liszt dem „Choral der Wiedertäufer“ aus dem ersten Akt der Oper „Le prophète“ von Giacomo Meyerbeer – in seiner Zeit gleichermaßen ein äußerst erfolgreicher wie auch (neidbedingt) angefeindeter Komponist. Schon allein die Wahl von Thema und Form machen das Changieren zwischen der Welt des Theaters und der Bühne als auch einer Faszination für alles „Religiöse“ deutlich, welches für Liszts Leben geradezu konstituierend war.

Was passiert nun mit einem Hörer, der von all dem nichts weiß, Struktur und Bau des Werkes nicht kennt und vielleicht „Ad nos“ sogar zum ersten Mal hört? Er wird unter den über ihn hereinbrechenden, noch so vorzüglich gestalteten Klangwogen Schiffbruch erleiden und schon in der zeitlichen Ausdehnung des Werkes jede Orientierung verlieren. Genau das war auch zu beobachten. Will man es tadeln? Gewiss nicht, denn eine gänzlich kommentarlose Aufführung wird weder dem Werk noch den Zuhörern gerecht. Wenige erläuternde Sätze führen zu einem anderen Musikerlebnis – lohnend für alle Beteiligten.

Nach 70 dicht gefüllten Minuten spendeten die Zuhörer stehend reichen Applaus, den sich Alessandro Bianchi zweifelsohne redlich verdient hatte und diesen mit einer kleinen Zugabe belohnte.