Das Landgericht Kleve verhandelt die Anklage gegen einen Kevelaerer wegen vielfachen sexuellen Kindesmissbrauchs. (Foto: aflo)

Missbrauchsprozess: Suche nach Erklärungen

Vor der öffentlichen Fortsetzung des Prozesses gegen ein Kevelaerer wegen vielfachen sexuellen Kindesmissbrauchs (das KB berichtete) hatte die Kammer des Landgerichts Kleve am Dienstag, 18. Februar 2020, zunächst nichtöffentlich mehrere minderjährige Zeugen vernommen. Im Anschluss daran äußerten sich Ton- und Filmtechniker aus Köln, die mit dem Angeklagten einen Film gedreht hatten, und der beste Freund des Angeklagten, der diesen seit fünfzehn Jahren kennt und mit ihm im Verein die Ferienfreizeiten ausrichtete. Der Freund gab in seiner Aussage an, dass es in den Jahren keinerlei Anzeichen gegeben habe. Auch dass der Angeklagte sich Jungen gegenüber anders verhielt als gegenüber Mädchen, auf den Filmaufnahme kaum Mädchen zu sehen waren, habe niemand in einen Zusammenhang mit solchen Vorfällen gebracht. Als er ihn dann im Sommer letzten Jahres darauf angesprochen habe, habe dieser die Taten abgestritten.

Der Angeklagte reagierte erkennbar emotional auf den Auftritt des Zeugen.

Keiner hat etwas geahnt

Ähnlich wie der Freund klangen die Aussagen zweier weiterer Betreuer. Ein Achterhoeker, dessen Sohn mal mitgefahren war und der als Betreuer auf den Sommer- und Pfingstfreizeiten unterwegs war, gab an, dass ihm nichts aufgefallen sei. Bei den Radtouren seien aber immer so fünf bis zehn Kinder mit dem Angeklagten vorne gefahren. „Das sind Thomas‘ Kinder“, habe es da immer geheißen. Ein 19-jähriger Winnekendonker, der als Jugendlicher auf drei Sommertouren und vier Pfingsttouren mitgefahren war, konnte von keinerlei Auffälligkeiten oder Gerüchten berichten.

Nach einer Pause sagten drei Beamte der Ermittlungskommission aus, die zu den Vorfällen eingerichtet worden war. Die Beamten bestätigten, dass der Angeklagte die Taten zugegeben habe, aber der Neffe als Opfer eine andere Anzahl genannt habe.

Im Anschluss daran äußerte sich der Sachverständige in dem Prozess, Martin Platzen, dessen differenzierte Ausführungen für manche betroffene Mutter im Saal schwer zu ertragen waren. Er machte in seiner Bewertung drei Problemfelder im Zusammenhang mit dem Angeklagten deutlich: dessen sexuelle Ausrichtung auf Jungen, dessen Depression und die Frage, inwieweit eine Alkoholisierung im Zusammenhang mit den Taten stehe.

Die Pädophilie sei nur eine prägende Facette der Sexualität des Angeklagten, da dieser auch Kontakte zu Frauen gehabt und mit seiner Ehefrau Kinder gezeugt habe. Dass die Pädophilie sich so herausgebildet habe, liege in seiner Biographie begründet. Er habe zu seinem Cousin bereits mit acht, neun Jahren sexuelle Kontakte mit hoher Intensität gehabt, „die aus dem Rahmen fallen“.

Die Annäherung an den Neffen habe der Angeklagte als „Fortsetzung dessen, was er als Junge erlebt hat“, aufgefasst – und dann so empfunden, dass das im Einvernehmen geschah. „Die ,Freiwilligkeit‘ eines Kindes ist in dem Alter keine Freiwilligkeit“, machte der Gutachter unmissverständlich klar, dass es im Prozess um aktive Handlungen von Pädophilie und klare Eingriffe in die Intimsphäre von Kindern gehe. „Das hätte er wissen müssen.“

Die Neigung breche durch, „wenn nicht die Chance auf Spannungsabbau“ bestehe. Dass in der Zeit zwischen 2001 und 2012 nichts passiert sei, habe an der regelmäßigen Sexualität mit seiner Frau gelegen. Dazu komme eine extreme Angst vor Entdeckung.

Der Gutachter beschrieb den Angeklagten als „frei von aggressivem Verhalten in der Pädophilie. Das ist einer, der sich maximal an schlafende Kinder rantraut, der aber nicht Kinder quälen kann. Weiter kann er gar nicht.“

Er beschrieb den Angeklagten weiter als „feingeistigen“ und überdurchschnittlich intelligenten Menschen, der sich immer selbst als „Loser“ und „Underdog“ gesehen habe. Bis Mitte 20 habe er sich gegen den Willen der Eltern nie auflehnen können, als Liebhaber „keine Erfolgserlebnisse eingefahren“. Platzen meinte: „Wer eine Null ist, traut sich nichts zu, auch als Mann nicht.“

Die Ehefrau sei ein „Fels in der Brandung“ gewesen, die Kreativität als Pädagoge und Filmemacher „Rettungsanker, wo er seine Fähigkeiten hineinlegen konnte.“ Das extreme Engagement im sozialen Bereich und für Kinder rühre aus seiner eigenen Geschichte, in der er es gern gehabt hätte, in seinen Fähigkeiten gefördert zu werden. Er habe „kein Zeltlager gemacht, um Kinder zu verführen, aber zugelassen, der Situation nachzugeben“.

Geplatzte Lebenslüge

Der Alkohol könne in Kombination mit der Depression zur Enthemmung geführt haben – und der Wahrnehmung, dass die Kinder nichts von seinen Übergriffen mitbekommen. Von einem „Alkoholrausch“ könne man aber hier nicht sprechen.

Der Gutachter sprach bezüglich des Angeklagten von einer geplatzten „Lebenslüge“: nach außen hin Familienvater und positiver Akteur, auf der anderen Seite Pädophilie ausübend, wovon die Ehefrau nichts wusste, und „immer so, dass es keiner merkt. Das war die Konzeption.“ Umso größer seien jetzt der Zusammenbruch und der Selbstekel angesichts der Taten.

Der Gutachter prognostizierte, dass es zukünftig keine Übergriffe dieser Art mehr geben werde. Denn alle wüssten jetzt, was der Angeklagte getan habe. „Das blockiert jede Aktivität.“ Der Gutachter empfahl Antidepressiva sowie eine Verhaltens- und Sexualtherapie.

Am Freitag, 28. Februar, wird der Prozess mit den Plädoyers der Anwälte fortgesetzt, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgenommen werden. Im Anschluss ist mit dem Urteil zu rechnen.