Keine Kirmes ohne Festkette
Die bewegte Geschichte des Kevelaerer Würdenschmuckes
Kevelaer. In Kevelaer gibt es einen Mann, der im gesellschaftlichen Leben – zumal zur Kirmeszeit – wichtiger ist als der Bürgermeister selbst: der Festkettenträger. Wer dies ist, wird jedes Jahr neu mit Spannung erwartet und auf dem Heimatabend der Geselligen Vereine verkündet.
Als sich 1908 die Geselligen Vereine zusammenschlossen, um eine gemeinsame große Kirmes auszurichten, wählten sie sich den Wahlspruch: „Seid einig“. Jeder Verein, der Mitglied war, sollte einmal als festgebender Verein die Kirmes ausrichten können. 1908 waren es elf Gruppen, heute sind es 15 Vereine, die sich bei der Ausrichtung der Kirmes abwechseln. Nachdem der Kevelaerer Gemeinderat unter Vorsitz von Bürgermeister Mathias Marx (Amtszeit 1901-1923) schon im April 1907 entschieden hatte, jedes Jahr 300 Mark zum Kostenbudget der Kirmes beizusteuern, fasste der Rat am 14. Februar 1908 den Entschluss, zur besseren und schnelleren Verwirklichung der erstrebten festlichen Veranstaltungen nochmals 300 Mark zur „Beschaffung einer schmucken, kunstvollen Halskette aus Edelmetall“ zu stiften. Damit war die Festkette aus der Taufe gehoben. Diese Kette sollte alljährlich vom jeweiligen Bürgermeister einer Persönlichkeit aus den Geselligen Vereinen überreicht und aus Anlass der Gemeinsamen Kirmesfeier im Festzug getragen werden. Im Ratsbeschluss von 1908 heißt es wörtlich: „Der Gemeinderat gibt sich der Hoffnung hin, daß der gegenwärtige einstimmige Beschluss bis in die fernsten Zeiten bei der Kirmesfeier Dasjenige fernhalten wird, was dem Charakter des Ortes Kevelaer als Wallfahrtsort widerspricht und daß er eine Garantie für das Fortbestehen des heute unter den Vereinen Kevelaers herrschenden schönen Einvernehmens bildet und Kevelaer durch sich das von Jahr zu Jahr weiter ausgestaltende Volksfest als Treffpunkt der Familienangehörigen von Nah und Fern gelten möge.“
Der Anstoß kam von der preußischen Regierung
Der Hintergrund für diese Aktivitäten für ein gemeinsames Kevelaerer Volksfest mag gewiss die Vorliebe des Niederrheiners für das Feiern und Repräsentieren gewesen sein. Den eigentlichen Anstoß lieferte allerdings eine Verordnung der damaligen preußischen Regierung. Diese forderte alle Bürgermeister der Städte und Gemeinden auf, die bestehenden „vaterländischen Vereine“ zu unterstützen und sich etwas Neues für deren Veranstaltungen auszudenken. Bürgermeister Mathias Marx nahm dieses Ansinnen gleich ernst und traf damit den „Nerv“ der Kevelaerer. Diese waren nämlich auch von Anfang an begeistert, eine große Kirmes gemeinsam auszurichten. Vom Gemeinderat erhielt die Firma Gebrüder
Bausch schließlich den Auftrag, die Festkette zu schmieden. Am 22. Mai 1908 war sie fertig. Die Bürger-Schützen-Gesellschaft eröffnete zur Kirmes den Reigen der Festgebenden Vereine, der erste Festkettenträger war Anton Janson. Die erste Gemeinsame Kirmesfeier unter Leitung der Gemeindevertreter mit Bürgermeister Marx an der Spitze fand vom 31. Mai bis zum 2. Juni 1908 statt.
Symbolik der Festkette
Die Kevelaerer Festkette ist ein Sinnbild für Einigkeit und Gemeinsamkeit. So steht die Kette selbst als Symbol für die Einheit und für die gemeinsame Verantwortung, denn ein Glied fügt sich harmonisch an das andere und bildet so erst die Kette. Als im Jahre 1964 Fritz Cleve die Festkette trug, schrieb er folgenden Spruch in das Ehrenbuch der Stadt Kevelaer, der den hohen Symbolwert der Festkette sehr treffend in Worte bringt: „Wie die Kettenglieder ineinander greifen, schreiten die Kevelaerer Bürger Arm in Arm einig durch die Kirmes, durch das Jahr, durch die Zeit.“
Die mit Eichenlaub verzierten Glieder der Kette wechseln mit Zwischenstücken, die die Symbole der damals angeschlossenen elf Vereine darstellen. An der Festkette hängen die Embleme der festgebenden Vereine. Von jedem Verein war bald eine Plakette vertreten. Schließlich hingen bald so viele Münzen und Plaketten daran, dass die Festkette irgendwann ziemlich unhandlich wurde. Daher wurde in den 1960er-Jahren eine offizielle Zweitkette angefertigt. Daran kamen die alten Plaketten der Vereine, die früher die Ausrichter der Kirmes waren. Die jüngste Plakette an der Hauptkette stiftete jeweils der festgebende Verein bzw. stiftet nun der Festkettenträger.
Neben den „Wanderplaketten“ gibt es einige Embleme, die einen festen Platz an der Festkette haben. Die wertvollste ist aus Gold gefertigt und zugleich als kleinste nicht größer als eine Briefmarke. Sie trägt die Aufschrift: Seid einig! Das Mittelstück der Kette ähnelt einem Brustschild und zeigt einen Adler mit dem alten Kevelaerer Wappen auf seiner Brust. Auf der Rückseite findet sich der Vermerk: „Geschenk der Gemeinde Kevelaer zwecks Gemeinsamer Kirmesfeier.“ Die Nachbildung eines alten Schöffensiegels von Kevelaer mit dem heiligen Antonius, dem Einsiedler, bleibt ebenfalls ständig an der Kette, ebenso drei Plaketten zur Erinnerung an die einstigen hochverehrten Präsidenten der Geselligen Vereine Arnold Dyx, Josef Aengenheyster und Johann Willems.
Verlust der Festkette
Jedes Jahr wechselt dieses wertvolle Schmückstück die Schultern. Eine Unterbrechung der Kirmesfeiern und damit auch der Festkettenübergabe gab es jedoch wegen Krieg und Inflationszeit von 1915 bis 1921, sowie zwischen den Jahren 1923 und 1924; auch der Zweite Weltkrieg brachte eine Pause von acht Jahren zwischen 1940 und 1948. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges war die Kevelaerer Amtsverwaltung nach Kamp-Lintfort evakuiert. Auch die Festkette war dorthin gebracht worden. Dort ging diese von der Gemeinde gestiftete Festkette in den Wirren des Krieges und der Besatzungszeit verloren und mit ihr die Erinnerung an viele schöne Tage. Nach Augenzeugenberichten wurde sie zuletzt am Hals eines Besatzungssoldaten gesehen. Bis heute weiß niemand, wo die Festkette letztlich geblieben ist.
Die Kevelaerer zögerten jedoch nicht lange. Goldschmied Hugo Weiblen, Oberster der Gold- und Silberschmiedinnung, ergriff die Initiative und klopfte an die Türen seiner Kollegen: Für die ursprünglich ein Kilogramm schwere Kette sammelte er 350 g Silber, 650 g stifteten die Stadt und die Geselligen Vereine dazu. Man begann, sich an die Rekonstruktion der Kette und der verlorenen Plaketten zu machen. Am 22. Mai 1949 war diese endlich fertig. Die heutige Kette ist daher eigentlich nur eine nachgemachte Kopie – eine Zweitkette, doch treu nach dem Vorbild der ersten erstellt.
Besondere Vorkommnisse
Im Jahr 1975, so eine Erinnerung des langjährigen Bürgermeisters Karl Dingermann, wurde Festkettenträger Gerhard Ripkens kurz vor der Verleihung der Kette entführt. Der damalige Platzkommandant Dr. Jan Deloy hatte ihn unter irgendeinem Vorwand aus seinem Haus gelockt und mit zu sich genommen. Recht ungewöhnlich war die Lösegeldforderung: Man forderte hundert Hühnereier für die Freiheit des Festkettenträgers. Da Gerhard Ripkens als Landwirt jedoch eine große Hühnerzucht auf seinem Hof hatte, war es für ihn nicht zu allzu schwer, diese ungewöhnliche Forderung zu erfüllen. Aber erst mussten die Eier her, dann erst begann die Zeremonie der Festkettenverleihung.
Einmal passierte es, dass der Festkettenträger vergaß, eine Plakette in Auftrag zu geben. Der Tag der Verleihung war gekommen, und es blieb nichts anderes übrig, als „pro forma“ eine beliebige Münze an die Kette zu heften. Erst ein paar Wochen später fand die flugs nachgemachte richtige Plakette ihren Platz an der Festkette. An die Erinnerungsplakette für seinen Adjutanten hatte der Betreffende jedoch gedacht.
Doris de Boer