Käthe Hartmann wird 100 Jahre

Reich an Erinnerungen ist ihr Leben, so reich, dass sie sogar vor einigen Jahren ein eigenes Buch zusammengestellt hat, und alles ist ihr noch so lebendig, als wäre es erst gestern gewesen. Wer Käthe Hartmann erlebt, kann nur noch staunen. Trotz ihrer nun vollen 100 Jahre wirkt sie fit wie ein Turnschuh und die Erinnerungen sprudeln nur so aus ihr heraus.
Mit viel Optimismus, Gottvertrauen und fast immer guter Laune hat sie auch die schweren Zeiten ihres Lebens überstanden. Im Kreis ihrer drei Kinder, sechs Enkel, sieben Urenkel, ihrer Freunde und Mitbewohner feiert sie heute und am Wochenende das Jahrhundertjubiläum ihrer Geburt.
Am 4. 4. 1919 erblickte sie in Witten an der Ruhr das Licht der Welt. Ihr Vater war als Soldat im Ersten Weltkrieg und danach in russischer Gefangenschaft. Schon als kleines Mädchen erlebte sie die französische Besatzung hautnah mit. „Pass bloß auf, geht niemals dort hin“, meinte ihre Mutter oft im Blick auf eine Scheune hinter ihrem Haus, in dem französische Soldaten untergebracht waren.
Gemeinsam mit zwei Brüdern und einer Schwester wuchs sie auf; erst in Witten, ab 1923 in Kamp-Lintfort, wo ihr Vater nach der Rückkehr aus dem Krieg im Bergwerk arbeitete. Neben der Zeche gab es ein Schwesternheim. „Bei den Schwestern bin ich groß geworden“, erzählt Käthe Hartmann. „Sie kümmerten sich besonders um die schwachen und kranken Kinder. Ich half den Schwestern bei allen Aufgaben gerne. Die Schwestern hatten dort einen Kindergarten, eine Nähschule und eine Kochschule. Das roch immer so lecker! Ich war bei ihnen wie zu Hause.“
In der Schule freundete sie sich später besonders mit Hilde an, einer Arzttochter. Deren Familie hatte sogar Dienstmädchen, ein beheiztes Haus und ganz anderes Essen. Die Freundschaft hielt trotz aller Standesunterschiede. Sogar so sehr, dass sie als Erstkommunionkind nach der Kirche zuerst einmal zu ihrer Freundin ging und ihre Eltern, die zu Hause warteten, ihr Kind erst suchen mussten. Nach dem Volksschulabschluss kam sie zu ihrer rheumakranken Tante Käthe in Krefeld und musste ihr mit ihren vier Kindern im Haushalt zur Seite stehen. Von ihr konnte sie auch das Schneiderhandwerk lernen, womit sie sich später immer noch ein Zubrot verdienen konnte. Aber auf Dauer vermisste sie Gleichaltrige.
Bald kam sie wieder zu ihrer Familie zurück, die aber davon nicht so begeistert war, denn es gab für sie keinen Platz: „Inzwischen war mein kleiner Bruder geboren, wir hatten gar nicht so viele Betten. Meine Eltern konnten mich zu Hause nicht brauchen.“ Durch die Vermittlung der Schwestern fand sie eine Stelle als Dienstmädchen in einem Beamtenhaus. „Ich hatte sogar ein eigenes Zimmer, es gab einen Kran mit Waschbecken und mit fließendem Wasser. Diesen Luxus kannte ich bisher nie! Ich fühlte mich wie ein König!“, erzählt sie.
18 Mark im Monat verdient
Die 18 Mark, die sie monatlich für ihre Arbeit bekam, gab sie fast immer ihren Eltern, die es nötiger hatten. Für sich selbst musste sie oft auf vieles verzichten. „Sport war mein Ein und Alles. Doch alles, was Geld kostete, war für mich nicht möglich. Luxus war mir immer fremd, bis heute!“, so die Jubilarin. Wieder vermisste sie jedoch Gleichaltrige. So kam sie schließlich über eine andere Freundin zum weiblichen Arbeitsdienst in die Lüneburger Heide. „Nun war ich zum ersten Mal fern der Heimat. Niemals hatte ich den Niederrhein bisher verlassen. Beim Zugfahren stand ich nur am Fenster und schaute staunend raus.“
Dort in Bevensen lernte sie auch ihren späteren Mann Hermann kennen, den sie 1939 heiratete. Die Hochzeit war klein und ohne die Eltern der Braut, weil das Fahrgeld zu teuer war. Sechs Küchenhandtücher bekam sie als einziges Hochzeitsgeschenk: „Ich fühlte mich sehr erwachsen und war sehr glücklich!“, so schreibt sie über dieses heute undenkbare Hochzeitsgeschenk in ihrem Erinnerungsbuch. Doch schon brach mit dem Zweiten Weltkrieg neues Elend aus: „Heute haben wir geheiratet, morgen begann der Krieg“, so ihr Resümee. Ihr Mann wurde eingezogen und kam nur manchmal auf Heimaturlaub nach Hause.
Drei Kinder wurden dem jungen Ehepaar geschenkt, Heidi, Peter und Klaus, doch der Jüngste sollte seinen Vater nie mehr sehen. Dieser wurde nämlich bald als vermisst gemeldet; erst viele Jahre nach Kriegsende bekam Käthe Hartmann aufgrund ihrer Nachforschungen im Jahr 1973 einen offiziellen Bescheid über den Tod ihres Mannes am 10. Mai 1945 in Sibirien. Nun war sie allein mit drei Kindern, lebte noch jahrzehntelang in Ungewissheit über sein Schicksal und musste sich und die Kinder alleine durch schwere Zeiten kämpfen. „Aber was hat mir Gott die ganze Zeit über seinen Schutz geschenkt!“, so weiß sie heute dankbar.
In Iglau in Tschechien war sie zum Ende des Zweiten Weltkrieges freiwillig in einem deutschen Arbeitsdienst und wurde durch diese Fügung mit ihren Kindern vielleicht auch vor Schlimmem bewahrt, als der Niederrhein schwer von Bomben heimgesucht wurde. Ab 1952, als die Kinder schon größer waren, arbeitete sie noch 12 Jahre als Schaffnerin in den Oberleitungsbussen im Kreis Moers. Morgens pünktlich um drei hieß es zum Dienst antreten.
„Es war im Winter oft schrecklich kalt, ich fuhr bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad zur Arbeit. Die Busse waren unbeheizt und oft ging eine Bustür nicht richtig zu. Eiskalte Hände nahm ich in Kauf, denn gut verdient habe ich auch!“, erzählt sie. Selbst bevorzugte sie aber zeitlebens statt Bus oder Auto das Fahrrad; sie liebte es immer, sportlich aktiv zu sein, denn „Wer rastet, der rostet!“ Erst vor eineinhalb Jahren kam sie ins St.-Elisabeth-Stift nach Kevelaer, davor lebte und versorgte sie sich in Kamp-Lintfort noch ganz allein. Ihr Rad musste sie schweren Herzens vor Kurzem gegen den Rollator eintauschen.
“Der liebe Gott hat mich hier unten vergessen”
Ihre drei Kinder sind heute selbst in Pension, ihre Urenkel sind alle schon in Ausbildung oder im Beruf. Manchmal vermisst sie, wie in ihrer Jugend oft, Gleichaltrige um sich. Oft denkt sich Käthe Hartmann: „Der liebe Gott hat mich hier unten vergessen!“ Doch ihr Sohn Peter hat darauf seine eigene Erklärung: „Nein, der hat dich nicht vergessen. Der will dich da oben nicht! Du quasselst einfach zu viel!“
Ihr Erinnerungsbuch, das sie 2013 mit Hilfe ihrer Nichte Eva Weber schrieb, ist ein eindrucksvolles Zeugnis ihres Lebens voller Fotos und Zeitdokumenten! Wenn man ihr so zuhört, spürt man: Diese Frau weiß noch alles von früher. Sie könnte mehr als nur ein Buch schreiben.