„Ich könnte jetzt noch arbeiten“

Wenn Elfriede Verhasselt an ihrem Esstisch sitzt und aus ihrem Leben erzählt, strahlt sie vor allem eines aus: Lebensfreude. Die Kevelaererin feiert am morgigen Freitag ihren 100. Geburtstag und denkt gar nicht erst daran, nur noch daheim zu sitzen. Die fünffache Ururoma stammt aus Thüringen und kam durch die Ehe mit ihrem Mann Gerhard Verhasselt im Jahr 1950 nach Kevelaer.

In der Marienstadt fühlt sie sich bis heute wohl – einziger Wermutstropfen: „Die Berge fehlen.“ Dass Elfriede Verhasselt heute in Kevelaer lebt, ist quasi dem Zufall zu verdanken. Sie lernte ihren Mann, der damals eine Reise nach Thüringen unternahm, 1939 in ihrer Heimat kennen. Am 4. November desselben Jahres folgte die Hochzeit. Ein halbes Jahr später wurde Gerhard Verhasselt zum Militär eingezogen.

An diese Zeit hegt die 99-Jährige noch intensive Erinnerungen – vor allem, weil ihr Mann sich dann in den 40er-Jahren für vier Jahre in Russland in Gefangenschaft befand. Neben der Sorge um den geliebten Ehemann stand sie vor der Herausforderung, mit ihren zwei Töchtern den Weg nach Kevelaer zu bestreiten. Ab 1950 kam sie mit ihrer Familie schließlich bei Freunden in der Wallfahrtsstadt unter.

Eine Frauen-WG mit der Enkelin

Die Arbeit sei ihr immer wichtig gewesen, erzählt Elfriede Verhasselt. „Ein Faulpelz war ich nie, das weiß ich wohl“, lacht die Seniorin. „Ich könnte jetzt noch arbeiten.“ Neben der Arbeit als Verkäuferin und der Tätigkeit bei der Buchbinderei Jansen habe sie anschließend sechs Jahre lang im Hallenbad gearbeitet. Daneben zog sie ihre zwei Töchter Waltraut und Erika groß und beherbergte seit den 50er-Jahren außerdem ihre Schwiegereltern. Mit ihrer Familie lebte sie nach der vorübergehenden Unterkunft bei ihren Freunden im Elternhaus ihres Mannes, der bereits im Jahr 1984 verstarb. Heute wohnt die 99-Jährige dort mit ihrer Enkelin Sylvia, die das Ganze charmant als „Frauen-WG“ deklariert.

Die Bezeichnung scheint der Seniorin ganz recht. Denn andernfalls könnte man gar vermuten, dass ihre Enkelin nur zu ihrer Unterstützung mit im Haus lebt. Davon hat die 99-Jährige allerdings nicht allzu viel nötig. Denn im Wesentlichen versorgt sie sich selbst: Sie bestreitet ihren Alltag, kocht, backt und geht einkaufen. Und wenn es nach ihr ginge, würde sie sich auch heute noch auf vier Rädern fortbewegen. „Aber Autofahren darf ich nicht mehr“, sagt die Seniorin – mit ironisch- vorwurfsvollem Blick auf ihre Enkelin Sylvia und Tochter Waltraut. „Das kriegen wir auch oft genug aufs Butterbrot geschmiert“, wirft ihre Tochter lächelnd ein. Abhalten lässt sich Verhasselt davon allerdings nicht.

Beim wöchentlichen Gang zum Markt und dem Einkauf im Supermarkt verlässt sie sich nun auf zwei Räder: ihren Rollator. „Hauptsache ich kann noch laufen. Dann bin ich aber auch K.O.“, räumt die 99-Jährige ein – fast so, als müsste sie sich dafür schämen.

Dass sie so lange mit dem Auto mobil war, verdankt die Seniorin auch einem glücklichen Händchen bei der Zahlenwahl. Denn in den 60er-Jahren durfte sie sich mit ihrer Familie über einen Lottogewinn im mittleren fünfstelligen Markbereich freuen. Der floss in Haus, Auto und Führerschein. Wenn sie nicht gerade Lotto spielte, war Elfriede Verhasselt gerne in der Natur unterwegs – ob mit dem Fahrrad, dem Mofa oder zu Fuß beim Wandern.

Außerdem ist sie gerne gereist, geschwommen und hat ihre Freizeit mit Handarbeiten verbracht. Zwei Mal durfte sie sich sogar „Königin“ nennen, als ihr Mann bei den Antoniusschützen auf den Königsthron stieg.

99 Jahre, wo sind die geblieben?

Und sonst verbrachte und verbringt die 99-Jährige gerne Zeit mit ihrer großen Familie: Zwei Kinder, fünf Enkel, 13 Urenkel und fünf Ururenkel zählen dazu, wenn auch nicht mit allen ein enger Kontakt besteht. Zu besonderen Anlässen wie ihrem 80. Geburtstag vereint die Seniorin dennoch gerne alle an einem Tisch. Durch Covid-19 bleibt ihr das in diesem Jahr verwehrt – auch wenn die Einladungskarten bereits geschrieben waren. Stattdessen verbringt sie ihren Geburtstag im engsten Kreis – eben im erlaubten Rahmen.

„99 Jahre, wo sind die geblieben?“, schmunzelt Elfriede Verhasselt, während sie von ihrem Geburtstag erzählt. Dass die Seniorin noch so fit durchs Leben geht, hat sie vor allem sich selbst zu verdanken, da sind sich Tochter Waltraut und Enkelin Sylvia einig. Sie sei stets aktiv gewesen, habe viel erlebt und sich auch geistig nie ausgeruht.

Auch wenn Letzteres in gewissem Maße ihrem Urenkel Marcel mit zu verdanken sein dürfte, der eng mit seiner Uroma aufwuchs. Er habe nämlich, erzählt seine Mutter Sylvia, früher aus dem Kindergarten häufig Spiele mitgebracht, die die Seniorin dann natürlich mit ihm spielen musste. „Und wenn sie ein Spiel nicht kannte, musste das halt gelernt werden.“ Das halte geistig fit.

Auch die Leidenschaft für Rommé hat bei ihr immer für Kopfarbeit gesorgt. So hatte die Seniorin bis vor einigen Jahren noch einen festen Rommé-Club. Und wer auch mit Mitte 90 noch dafür Sorge trug, dass alle betagten Damen mit dem Auto nach Hause gefahren wurden, dürfte klar sein.