Eine Schutzhütte für kristallisierten Geist

Ein chinesisches Sprichwort sagt sinngemäß: „Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Schutzhütten, die anderen Windmühlen.“ Als gehorsam dem Fetisch Digitalisierung hinterherhechelnder ‚Weltbürger‘ ist die ‚korrekte‘ Entscheidung für die Windmühle natürlich eine ebenso ‚selbstverständliche‘ wie die Einsicht in die Konstanz der Veränderung keine neue ist: Panta rhei – alles fließt. Dennoch, was uns lieb und teuer ist, was uns überzeitlich erscheint, was uns als Produkt kreativen Geistes gilt, entziehen wir den erodierenden Kräften des Fließens und Wehens und verwahren es lieber in der sprichwörtlichen Schutzhütte.
Der Herr und Hüter unserer Kevelaerer „Schutzhütte“, des „Niederrheinischen Museums für Volkskunde und Kulturgeschichte“, übergibt sein gut bestelltes Haus zum Ende des Monats in die Verantwortung seiner Nachfolgerin Veronika Hebben und „muss von nun an nichts mehr müssen“, wie er selbst ironisch lächelnd sagt.
Nach altsprachlichem Abitur beginnt der 1949 im westfälischen Ahaus geborene Schwering mitten im unruhigen Jahr 1968 ein Studium in den Fächern Germanistik, Geographie und Pädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster. Nun ist das behäbig gediegene Münster gewiss nicht als Unruheherd in die Geschichte der 68er-Bewegung eingegangen, dennoch entsinnt sich Schwering an Studentendemos, Hörsaalbesetzungen und eine Politisierung des studentischen Alltags, die im gegenwärtig „modularisiert sterilen“ Lehrbetrieb nur noch schwer vorstellbar ist. Überhaupt ist der Geist der ‚universitas‘ von Jugend an für ihn lebensbestimmend: Die Dinge möglichst allumfassend, über die Grenzen des eigenen Fachs hinaus begreifen. Das sich anschließende und in der Promotion zum Dr. phil. mündende Studium der Volkskunde (Europäische Ethnologie), erscheint daher auch beinahe wie eine logische Konsequenz.
Fließend, noch vor dem Abschluss seiner Promotion, erfolgt 1979 der Wechsel nach Kevelaer, wo er zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Leiter des Museums angestellt ist. Nach eigenem Zeugnis ist der Erstkontakt mit der ‚Unmittelbarkeit‘ der rheinischen Herzlichkeit für den auch heute noch anfänglich reserviert wirkenden Westfalen verstörend, zumindest fremd gewesen. Seine aus hiesigen Breiten stammende Frau muss ihre Aufgabe als Kulturbotschafterin allerdings bestens wahrgenommen haben, bezeichnet Schwering doch Kevelaer und den Niederrhein als seine Heimat im Sinne von: „Ubi bene, ibi patria“ – Wo es mir gut geht, dort ist mein Vaterland.
Heimatliche Verwurzelung entsteht bekanntlich nicht nur durch Arbeit oder vielleicht sogar am wenigsten durch sie, sondern vielmehr durch ein Sicheinweben in das einen umgebende Geflecht aus Kultur und Natur. Die tägliche Auseinandersetzung mit volkskundlichen Artefakten, die für Schwering einerseits als Dokumente der Alltäglichkeit das „pralle Leben“ abbilden, andererseits in ihrer durch den Menschen geschaffenen Einmaligkeit „gefrorenen Geist“ abbilden, verlangt Kontrast. Und so zeigt sich Burkhard Schwering als naturverbundener Mensch, der bei seinen beiden großen Leidenschaften, der Jagd und dem Angeln, Rückzug und Ruhe sucht. Das Sammeln, Ordnen und Präsentieren sucht seinen Gegenpol im (gelenkten) Chaos des Reichswaldes oder des heimischen Gartens.
Nach gefühlter Unendlichkeit wird Schwering 2007 schließlich in Altersnachfolge seines Vorgängers zum Leiter bestellt und kann nun maßgeblich die Arbeit des Kevelaerer Museums prägen. In die Zeit seines in Summe über 40jährigen Wirkens fallen 54 von ihm kuratierte Sonder- oder Kabinettausstellungen, wie auch ungezählte Publikationen zur regionalen Volkskunde und Kulturgeschichte. Dem Volkskundler ist dabei immer die dokumentarische Breite seines Hauses eine Herzensangelegenheit gewesen, um Geschichte an Objekten des Alltages erlebbar und verständlich werden zu lassen, ohne sich der Banalität des Durchschnittlichen hinzugeben.
In wenigen Tagen nun für ihn die Zäsur, ein Einschnitt im Leben – Ruhestand. Es wäre sein erster Pensionsbeginn, daher lägen auch noch keine Erfahrungen im Umgang mit demselben vor, wie er verschmitzt anmerkt. Die Vorhaben klingen ein wenig wie solche, die man vor jedem längeren Urlaub fasst: die Berge auf dem heimischen Schreibtisch verkleinern, jene Bücher lesen, die schon vor Jahren gekauft, ungelesen Patina bekommen haben und die wiedergewonnene Freiheit genießen. Letzteres ein beneidenswertes und sicher auch das höchste Gut. Dennoch dürfen wir gespannt sein, welchen Dingen sich ein suchender und hinterfragender Geist wie Burkhard Schwering nach dem Ende der „großen Ferien“ widmen wird.
Eines sagt er klar, als Zäsur im Leben, die ein Loslassen von „seinem Museum“ erfordert, begreift er seinen Ruhestandsbeginn eindeutig. Die Nachfolgerin wird es beruhigt goutieren. Man merkt Burkhard Schwering an, dass er über die Entscheidung für Veronika Hebben in seiner Nachfolge mehr als nur zufrieden ist. Eine Kunsthistorikerin prägt fortan ein volkskundlich aufgestelltes Haus und beerbt auch einen Volkskundler. Mit der Henschel-Ausstellung hat sie einen ersten Markstein gesetzt und auch Schwering liegt die Erweiterung der Sammlungs- und Ausstellungstätigkeit auf das Gebiet der bildenden Kunst am Herzen. Die Integration einer in Aussicht gestellten Privatsammlung in das Museum mit Werken von Mondrian, Slevogt und Barlach lässt auf Großes für Kevelaer hoffen.
Ein Bildungsbürger zieht sich zurück
Mit Burkhard Schwering geht nicht nur einfach der „Herr Museumsdirektor“ in Pension, sondern vielmehr zieht sich ein Bildungsbürger alten Schlages von der öffentlichen Bühne zurück, in dessen Wirkungsspanne sich der gesellschaftliche Stellenwert und die allgemeine Wahrnehmung (nicht nur) seiner Arbeit grundlegend geändert hat. Vorbei die Tage, als ein Museum Stätte der Bildung und Stolz der Bürger war! In einer Zeit, in der Ausstellungsstücke, sofern sie nur spektakulär genug sind, im „Selfie-Wahn“ einzig zur Projektionsfläche des eigenen kleinen ‚Ich‘ pervertiert werden, heißt es griffige Antworten darauf zu finden, wie die „Digital Na(t)ives“ sich überhaupt noch im Sinne des Bildungsauftrages erreichen lassen, der einem jeden Museum zugrunde liegt.
Was macht uns als Menschen aus? Was macht den Menschen zu mehr, als einfach nur zu einem ‚primus inter pares‘ im Reich der Tiere? Ganz gewiss ist es auch seine Kulturfähigkeit, die in Alltags- und Kunstgegenständen unmittelbar erfahrbar wird – Generationen überlebend. Das Museum als Ort der Begeisterung für Kulturzeugnisse war Kern der Arbeit Burkhard Schwerings – „das pralle Leben dokumentieren“, sagt der Volkskundler. Das ist Quintessenz und Auftrag in einem, letzteres nicht nur an seine Nachfolgerin.
Das Museum lebendig zu halten, ist Auftrag an uns alle, denn kein digitales Abbild ersetzt die Authentizität vermittelnde Nähe zum Objekt – genauso wenig, wie ein Audiostream das Live-Konzert und ein youtube-Video den Theaterbesuch überflüssig macht.
Bekanntlich beginnt auch ein Weg von tausend Meilen mit dem ersten Schritt – Wann waren Sie also zuletzt im Kevelaerer Museum?