Eine Komposition des Lebens

Sich so einfach mal eben in die Hotelhalle zu setzen, einen Kaffee oder Cocktail zu schlürfen und sich zwei Stunden lang dem eigenen Müßiggang und der anderen Anwesenden Seelenstriptease hinzugeben – das funktioniert hier nicht. Mag das vielleicht noch die Intention des 1929 erschienenen Romans „Menschen im Hotel“ von Vicki Baum gewesen sein, mag das in der – Verzeihung – Eindimensionalität der schwarz-weiß-Verfilmung mit Great Garbo noch ganz gut möglich gewesen sein, nimmt die Regisseurin Marlene Anna Schäfer in ihrer gleichnamigen Inszenierung für das Rheinische Landestheater Neuss dem Theaterzuschauer diese Distanz gleich auf mehrfache Weise. Und so durften die Besucher im Bühnenhaus in der vergangenen Woche einen anstrengenden, wiewohl gleichermaßen lohnens- wie lobenswerten Theaterabend erleben.
Da friert zunächst einmal das Bühnenbild die „goldenen 20er“ in wenigen metallisch-harten Formen ein. Und als ob das nicht reichte, die Menschen in diesen, nur noch entfernt an ein Hotel erinnernden Spielflächen hervorzuheben, sind sie alle noch herausragend bis clownesk kostümiert. Sie sprechen mit sich, mit den anderen Protagonisten, aber auch mit dem Publikum gleichermaßen. Das zieht hinein in diese gleißend-zwielichtigen Szenarien, in die Konstellationen der Personen untereinander, die wechseln, und dabei vom Zuschauerraum aus den Eindruck einer Drehbühne vermitteln, ohne dass sich der Boden bewegt. Die Lebenswege verschlingen sich für einen kurzen Moment einer Begegnung ineinander, um sich dann wieder voneinander zu lösen. Aber jede der Figuren scheint gleichzeitig auch Tentakel zu besitzen, die in den Zuschauerraum greifen, ein symbolhaftes Bild des Charakters hinterlassen, bevor sie sich wieder in die Figur zurückziehen. Man kann sich kaum dieses Angriffs der „Menschen im Hotel“ erwehren, so leise und klug sind diese Ausleger gebaut und inszeniert. Besonders deutlich wird das bei den von drei Musikern wunderbar illustrativ unterfangenen Songs, die sich derart logisch in die Abläufe einfügen, dass man sich fragt, wie eine Inszenierung ohne sie auskommen kann.
Und gleichzeitig wird die Vielschichtigkeit, oft auch die Unbestimmtheit der Personen deutlich. Den Schauspielerinnen und Schauspielern gelingt es, ihre Charaktere der Zeiten zu entkoppeln, ohne dass man zu erkennen glaubt, aus welcher der Schubladen sie stammen, die man sich selbst in seinem Auge wohl eingerichtet haben mag. Damit schaffen sie das, was den Roman einst zu etwas Besonderem machte: Die Personen erscheinen unwillkürlich, die Szenen nicht einer Komposition der Autorin, sondern der des Lebens zu entspringen. Und da ist es folgerichtig egal, welches Jahrhundert und genau genommen sogar welcher Ort.