„Ein kranker Straftäter“
Als seine Mutter ihre Aussage beendet hatte und weinend im Zuschauerraum Platz genommen hatte, gab es für den Angeklagten kein Halten mehr. Als er nicht zu ihr gehen durfte, trat er gegen die Beamten, beschimpfte diese und schlug gegen zwei Corona-Schutzscheiben. Zuvor hatte die Mutter vor der Kammer des Klever Landgerichts ausführlich den Weg des Sohnes vom hochintelligenten, unauffälligen Kind und Schüler zum unsteten, eine bipolare Störung aufweisenden Mann beschrieben. Der wegen bandenmäßigen Geldautomatensprengungen und Einbrüchen Angeklagte hatte vergeblich versucht, die Öffentlichkeit von der Vernehmung ausschließen zu lassen. Das Gericht sah dafür aber keine Grundlage.
Die Mutter hatte über Jahre Notizen über ihren Sohn gemacht und trug diese Erfahrungen dem Gericht zusammenhängend vor. Sie hatte – zweimal den Tränen nahe – ausgeführt, dass ihr Sohn in einem „ständigen Auf und Ab zwischen Extremen” von Hochstimmung und Begeisterungsfähigkeit über Unverstandensein bis völligem Rückzug geschwankt habe.
Bis zum 16. Lebensjahr sei die Kindheit unproblematisch verlaufen. Danach habe es eine Verhaltensänderung gegeben, vielleicht bedingt durch eine Schulsituation, in der er verprügelt wurde und später durch das Trauma bei der „Loveparade“ 2010. „Es ging immer weiter in die falsche Richtung“, berichtete sie von Prügeleien, der Mitgliedschaft in der Hooligan-Szene Köln, notwendigen Schulwechseln. Sie sprach von mehreren Behandlungen durch Psychologen, von „Wahnvorstellungen” und „Halluzinationen“, exzessivem Glücksspiel und Momenten der Normalität als Kellner.
Dazu kam die Wahrnehmung, „Angst vor den eigenen Gedanken“ zu haben, die verschiedenen Delikte und der „krampfhafte“ Versuch, mit Frau und Kind ein Familienleben aufzubauen. „Solange seine eigenen Probleme nicht gelöst sind, kann er das nicht schaffen“, sagte sie. Ihr Sohn sei „nicht nur ein Straftäter, sondern auch ein kranker Straftäter“, der dringend psychologischer Hilfe bedarf.
Lehrbuchhafte bipolare Störung
Der Gutachter schloss sich in seiner Bewertung an, sprach von einer fast „neurotischen Verzerrung der Persönlichkeit“ und einer „lehrbuchhaften bipolaren Störung“, die sich nur mit Medikamenten und einer psychopädagogischen Begleitung lösen lasse. „Er ist ein Mensch, der Hilfe braucht. Ob er sie annimmt, weiß ich nicht.“
Zuvor hatte der ermittelnde Beamte zu den Ermittlungen ausgesagt. Man habe aufgrund der Vergleichbarkeit der Fälle alle fünf versuchten beziehungsweise durchgeführten Sprengungen am Twistedener „Irrland“, in Moers, Tönisvorst, Pulheim und Mülheim-Kärlich als zusammenhängende Taten gewertet. Man habe im Fall Tönisvorst die Spuren aller drei Täter an den Gasflaschen und Kabeln gefunden. Ob der Angeklagte bei der Ausführung die Gasflasche oder die Kabel gehalten habe, lasse sich aus den Spuren aber nicht klar sagen. Außerdem sprach er von einem Telefonat zwischen einem der in Österreich weilenden Täter und dem in Italien arbeitenden Angeklagten, wo sich beide über mögliche weitere Taten unterhalten hätten.
Der Richter trug aus dem Schlussvermerk von Ermittlungen vor, nach denen das Funksignal des Handys des Angeklagten in Tönisvorst, Moers und Twisteden geortet worden und die DNA des Angeklagten in Pulheim festgestellt worden sei. Die Verteidigung widersprach den Schlussfolgerungen aus dem Vermerk.
Die Moerser Gaststättenbesitzerin, bei der der Angeklagte als Aushilfe gearbeitet hatte, konnte keine Aussage dazu treffen, ob der Angeklagte zum Zeitpunkt der Moerser Geldautomatensprengung gearbeitet hat oder nicht. Dazu gebe es ihres Wissens nach „keine Quittung“, sagte sie aus. „Da müsste ich meinen Mann fragen.“ Die Verteidigung erhofft sich über diese Aussage Entlastung für seinen Mandanten und bestand aus diesem Grund auf eine Vernehmung des Mannes. Das Gericht lud den Mann für den kommenden Montag, 7. September 2020, 9 Uhr, vor. Dann wird wohl auch das Urteil fallen.