Der Herr der Uhren

Der Körper mag leicht gebeugt, die Bewegungen nicht mehr so flüssig und die Augen nicht mehr so funktionstüchtig sein, doch wer in das Gesicht von Aloys de Witt sieht, der erkennt nach wie vor einen lebendigen, vitalen Geist und einen Menschen, der sich für viele Dinge im Leben noch interessiert.
„Ich lasse mir jeden Freitag beim Mittagessen aus dem Kevelaerer Blatt vorlesen“, gesteht der rüstige Jubilar, der im Kreise seiner Familie bei „Scholten“ seinen 95. Geburtstag feiern durfte.
Dass er dieses Alter erreicht hat, erstaunt ihn selbst ein wenig. „Mit 100 Prozent Kriegsbeschädigung hätte ich das nie gedacht“, sagt der Mann, der noch immer in dem Haus an der Egmontstraße wohnt, wo er geboren wurde. „Vielleicht war es ja die gute Pflege“, schaut er in Richtung seiner zweiten Frau Margot.
Der Körper setze natürliche Grenzen, sieht de Witt das gelassen. „Ich schwindele, aber anders. Ich bin ein großer Schwindler“, lächelt er verschmitzt. Ab und an benutzt er noch den Scooter zum Fahren, hat ein Gehgestell als Unterstützung.
Lieblingsplatz mit Blick auf die Basilika
Ein bisschen aufräumen, am Laptop sitzen oder übers I-Phone noch Verbindungen zu Familie und Freunden aufrechterhalten, das geht noch immer. „Das ist mein Urenkel“ , zückt er das Handy und zeigt auf das Bild, das er selbst nur schwer erkennen kann.
Sein Lieblingsplatz ist der Garten mit direktem Blick auf die Basilika. Zu dem Kirchturm hat er ein besonderes Verhältnis. War es doch der frühere Uhrmacher, der jahrelang die Uhr der Basilika aufziehen und pflegen durfte. Bereits 1967 war er in seine Heimat zurückgekehrt, nachdem er zuvor als Meister in einem Schmuck-und Uhrengeschäft in Rheinberg aufgehört hatte. „Ich habe immer darauf geachtet, dass die Uhrzeit stimmte“, schmunzelt de Witt.
„Vorerfahrung“ hatte er nach seiner Ausbildung als Uhrmachermeister in Köln gemacht, wo er Anfang der 50er Jahre zum „Herrn“ über die Kölner Domuhr wurde: „Da ging‘s am rechten Turm die Treppe hoch. Dort war ein richtiges Uhrwerk, das an schweren Gewichten hing. Da war eine Rolle, die musste man drehen. An den Gewichten war eine Kordel, die man bis nach oben hin zog und dann ging die Uhr wieder.“
Tausende von Uhren repariert
Eigentlich wollte de Witt Tierarzt werden. Im Jahr 1942 wurde der heute vierfache Vater eingezogen und dreimal verwundet. Er kam aus russischer Kriegsgefangenschaft über Dresden und Krefeld wieder nach Hause. Dort kam es zum Wiedersehen mit den Eltern. „Mein Vater riet mir, Uhrmacher zu werden. Ich habe es nie bereut.“ Und sein Sohn Georg ist seinem Weg gefolgt. Er übernahm 1994 den Laden seines Vaters.
Die (Uhr-)Zeiten waren damals andere als heute, erzählt Aloys de Witt. „Es gab keine elektrischen Uhren. Da musste man in das Uhrwerk Federn einsetzen. Und man musste die Uhr für die Arbeit auseinandernehmen.“ Filigranarbeit, der gute Blick sowie ganz viel Ruhe und Geduld waren angesagt. Zudem war die Familie mit im Laden, auch seine Frau Lieselotte, die ihn 1987 nach schwerer Krankheit verließ.
Heute könne man sich überall im Großhandel Uhren kaufen, sagt der bekennende Tierfreund und Kegler. „Aber wertvolle Uhren, die halten, die werden noch im Fachgeschäft verkauft“, ist seine feste Überzeugung.
Wieviele Tausende Uhren durch seine Hände gegangen sind, vermag de Witt heute nicht mehr zu sagen. Eine der besonderen Uhren war auch mit die erste, als er für die Chefin von „4711“ in Köln eine Damen-Brilliantarmbanduhr erstellte: „Damals habe ich dafür acht Tage gebraucht.“
Sein Werk hat Aloys de Witt im Leben vollbracht. Den letzten Lebensabschnitt will er so gut und so lange wie möglich noch bewusst genießen. Und auch der Optimismus ist ihm geblieben. „Zum 100. sehen wir uns hier wieder“, sagt er, als er seinen Gast zur Tür begleitet.